Das Vermächtnis des Templers
blieben noch eine ganze Weile in kampfbereiter Aufmerksamkeit.
«Du kannst das Schwert senken», sagte Jacques schließlich.
Sie hatten an diesem Abend nicht mehr gesprochen. Johannes war so erschöpft gewesen, dass er sofort einschlief, nachdem er sich in der Scheune auf seinen Mantel gelegt hatte.
Am Morgen stellte Jacques Brot, Käse und Wasser bereit. Johannes nahm es dankbar an und setzte sich neben seinen Lehrer.
«Habe ich das geträumt?», fragte er.
«Nein, das hast du nicht geträumt. Es war nicht die Salbe.» «Wusstet Ihr von den Wölfen?»
«Als ich dich an der Scheune zurückließ, habe ich die Umgebung erkundet, aber weder Spuren gesehen noch das Heulen von Wölfen wahrgenommen. Der Angriff geschah völlig lautlos und ohne irgendein Zeichen der Vorwarnung. Wölfe sind gute Krieger.»
«Warum sind sie abgezogen?»
«Du fragst? Es war deine Entschlossenheit. Wölfe spüren die Schwäche ihrer Gegner. Sie haben einen guten Geruchssinn. Für einige Augenblicke haben sie deine Angst gespürt. Aber deine Entschlossenheit hat dich gerettet. Wölfe sind sehr klug. So klug, dass sie einen Kampf auf Leben und Tod nicht suchen. Sie sind geschickt und gefährlich, aber weise genug, sich nicht ohne Grund in Gefahr zu begeben. Sie kennen keinen Stolz, was diese Dinge angeht. Deshalb sind sie den Menschen gewöhnlich überlegen.»
«Ihr habt neben mir gesessen, aber ich habe nicht bemerkt, was Ihr getan habt.»
«Ich tat genau das, was du getan hast», antwortete Jacques. «Wenn zwei Krieger in gleicher Weise Entschlossenheit zeigen, ist das eine große Geste, die jeden Angreifer beeindruckt. Zwar hast du dich einige Augenblicke von Gefühlen bedrängen lassen, aber dann bist du zu deiner Makellosigkeit zurückgekehrt. Das war gut so. Wir hätten sonst keine Chance gehabt. Die Wölfe wären stärker gewesen.»
«Stärker als unsere Schwerter?»
«Ja.»
Schweigend aßen die Männer Brot und Käse. Johannes dachte über Jacques’ Worte nach. Hatte er sein Schwert bislang als eine Auszeichnung betrachtet, wusste er nun, was es bedeuten würde, dieses Schwert zu führen. Es waren Worte, die man ihm zu diesem Schwert mitgegeben hatte. Aber es galt zu handeln. Und das geschah jetzt. Jetzt erst, seit er die Küste erreicht hatte.
«Wir reiten weiter», unterbrach Jacques die Gedanken des Jungen.
Wenig später folgten sie dem Weg, der sie nicht mehr durch Wälder führte, sondern an weit ausgedehnten Feldern entlang. Immer öfter sahen sie Scheunen, hin und wieder auch einen Hof.
Gegen Mittag gönnten sie sich und dem Pferd nur eine kurze Rast. Jacques meinte, er wolle heute keine Zeit verlieren.
Am Nachmittag sahen sie in der Ferne die Spitze eines mächtigen Kirchturms in den Himmel ragen.
«Das ist Rouen», sagte Jacques. «Aber wir haben ein anderes Ziel.»
Dann gelangten sie an einen breiten Fluss.
Terz
Johannes hat die letzten Stunden im beheizten Scriptorium verbracht. In der Nähe der Bücher fühlte er sich schon während der Novizenzeit am wohlsten. Hier gibt es Welten zu entdecken. Natürlich weiß er, dass diese Welten Gedankenwelten sind, selbst wenn die Bücher von Erfahrungen ihrer Urheber berichten. Doch er weiß auch um die Kraft der Inspiration, die von den Buchstaben ausgeht.
Die Glocke unterbricht seine Gedanken. Sie ruft zur Terz. Nur kurz wird diese Unterbrechung sein. Die Terz gehört zu den kleinen Horen. Aber dennoch ist sie wichtig. Eben als kurzes Innehalten, Bewusstwerden.
Augenblicke später sitzt Johannes im Chor der Klosterkirche und stimmt in den Gesang der Mönche ein. Nach dem Ingressus intonieren sie gemeinsam den Hymnus der Geistausgießung. Er erinnert daran, wachsam zu bleiben, die eigene Lebendigkeit als Lodern der Flamme des Heiligen Geistes in die Welt hinauszutragen. Es ist Zeit, das Leben zu feiern, sich erneut bewusst zu machen, dass irdische Lebendigkeit und göttliches Leben in uns wirken. Wir alle sind wie jener erste Mensch, dem Gott den Lebensodem eingehaucht hat.
Wenn die Mönche sich zurückziehen und in der Einsamkeit ihren stillen Weg zu Gott suchen, wenn auch das innere Gespräch zum Schweigen kommt, erleben sie das, was bleibt: den Atem, das rhythmische Ein und Aus. In der Einsamkeit der Kontemplation begegnet der Mönch dem Ursprünglichen. Dabei öffnet er sich für Gott, wohlwissend, dass dieses stille Gebet nicht Gott verändern kann, wohl aber den, der sich geöffnet hat, um das Unsagbare einzulassen.
Die Terz ist ein Innehalten, eine kurze Erinnerung an
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