Das Vermächtnis des Templers
und sich schließlich etwas entfernt neben ihn ins Gras setzte.
Dann schwiegen beide.
Zunächst war Johannes verwundert darüber, dass nichts geschah. Er begann sich zu langweilen, wurde ungeduldig. Doch bald meinte er eine Veränderung seiner Umgebung wahrzunehmen. Beim Blick auf das Grün des Waldes war dieser Eindruck zunächst nicht besonders stark, aber das Gelb und Rot der Feldblumen intensivierte sich, als würden die Pflanzen aus sich heraus strahlen. Mit der Zeit wurde auch das Grün intensiver. Aber noch mehr überraschte Johannes, dass der Boden sich ganz allmählich zu wölben begann. Zunächst nur ganz leicht, dann stärker. Schließlich schien der ganze Horizont nach unten zu kippen. Johannes blickte hinab zum Boden. Der Mantel unter ihm schien plötzlich die einzig ebene Fläche zu sein. Aber auch der wölbte sich am Rande hinab. Johannes hatte keinen Zweifel mehr: Er begann zu fliegen. Diese Einsicht stürzte ihn in Panik. Er bewegte den Körper nach vorn und nach hinten, versuchte seinen Mantel über die Ebene hinweg zu lenken. Das gelang. Mal stürzte er hinab, mal bewegte er sich dem Himmel entgegen. Dann blickte er zur Seite, um Jacques zu suchen. Zu seinem Entsetzen befand sich der in unerreichbarer Tiefe. Die Farben hatten inzwischen so an Kraft gewonnen, dass es Johannes nicht mehr möglich war, sie zu ertragen. Er schloss die Augen in dem sicheren Gefühl, schon Stunden geflogen zu sein, kämpfte verzweifelt gegen eine ganz plötzlich aufkommende Müdigkeit und fiel kraftlos in Ohnmacht.
Als er wieder zu sich kam, saß Jacques neben ihm und kühlte ihm mit Wasser die Stirn. Johannes hatte etwas Kopfschmerzen und verspürte großen Durst. Er richtete sich vorsichtig auf. Jacques gab ihm zu trinken.
«Du hast einige Zeit geschlafen», sagte er. «Es ist bereits Nachmittag.»
«Was ist mit mir geschehen?», fragte Johannes.
«Nichts Schlimmes. Du hast geträumt.»
«Ich bin geflogen.»
«Bist du sicher?»
«Ja.»
«Es ist schon erstaunlich, wie sicher du immer bist. Erst glaubst du nur, was du sehen kannst. Dann willst du mir erzählen, dass du geflogen bist. Schau nach oben.»
Über ihnen kreiste ein Greifvogel.
«Du willst mir doch nicht erzählen, dass du geflogen bist wie er?»
Johannes war noch immer verwirrt.
«Was habt Ihr mit mir gemacht?»
«Ich habe dich träumen lassen», war die nüchterne Antwort.
Wenig später ritten sie weiter und durchquerten mehrere kleine Waldgebiete. Einmal stieg Jacques vom Pferd, um Spuren zu betrachten.
«Wölfe», sagte er kurz, ohne seinen Befund näher zu erläutern.
Sie erreichten eine Scheune, die sich etwas erhöht inmitten von Feldern befand und offenbar ungenutzt war.
Hier machten sie Halt. Jacques versorgte das Pferd und brachte es in die Scheune. Dann kam er mit Brot, Käse und Wasser zurück. Johannes hatte sich ins Gras gesetzt, und Jacques tat es ihm nach.
«Wie fühlst du dich?», fragte er den jungen Mönch. «Die Kopfschmerzen haben aufgehört.»
«Das ist gut. Hier, trink etwas.»
Johannes nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche.
«Was war das, das Ihr mir auf die Schläfen gerieben habt?»
«Eine Salbe. Sie wird aus verschiedenen Essenzen hergestellt. Auch Schierling ist darunter.»
«Schierling ist giftig.»
Jacques lachte.
«Ja, du hast recht. Schierling ist allerdings nur gefährlich, wenn du ihn isst.»
«Was hat diese Salbe mit mir gemacht? Bin ich wirklich geflogen?»
«Willst du die Wahrheit wissen?»
«Ja!»
«Du hast dich nicht eine Armlänge weit bewegt. Zum Schluss bist du allerdings bewusstlos geworden.»
Johannes schwieg betroffen.
«Du musst dir keine Vorwürfe machen. Gewöhnlich reagiert man so auf die Salbe. Auch die Kopfschmerzen gehören dazu. Aber du sagtest eben, du wärst geflogen. Bist du jetzt noch immer der Meinung?»
«Die Salbe hat mir wohl etwas vorgegaukelt. Aber in der Zeit, als die Salbe wirkte, war ich völlig davon überzeugt, dass ich fliege und dass sich alle Farben verändert haben.»
«Und nun? Ist jetzt wieder alles in Ordnung?»
«Sicherlich.»
«Aber es ist doch noch der gleiche Verstand, der dir das sagt. Oder nicht?»
«Allerdings. Ihr meint, mein Verstand könnte mir auch jetzt etwas vorgaukeln?»
Jacques dachte einen Moment nach.
«Wir dürfen wohl nicht davon ausgehen, dass alles, was wir sehen und erklären können, auch wirklich so ist, wie wir es sehen und erklären können.»
«Und Ihr meint, Jesus ist wirklich über das Wasser gegangen?»
«Warum nicht?», fragte Jacques
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