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Das Vermächtnis des Templers

Das Vermächtnis des Templers

Titel: Das Vermächtnis des Templers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Andreas Marx
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während des Essens durch den Kopf. Doch ihm ist auch bewusst, dass die Sext, die Mittagsstunde, den Moment der Herausforderung symbolisiert. Mitte des Tages. Mitte des Lebens. Es ist die Zeit, innezuhalten und über das eigene Tun nachzudenken. Die Sonne hat den Zenit erreicht. Selbst die Vögel schweigen. An diesem Wendepunkt der Zeit entscheiden wir über das Schicksal unseres Tages. Auch das Leben kennt diesen Wendepunkt. Die Mitte des Lebens birgt noch einmal alle Möglichkeiten. War der bisherige Weg der richtige? Gibt es etwas zu bereuen, besser zu machen, wiedergutzumachen? Kann es wirklich so weitergehen? Ist nicht doch ein ganz anderer Weg der richtige? Eröffnet das Leben nicht auch bislang ganz ungenutzte, vielleicht immer schon erwünschte Facetten? Johannes denkt zurück an die Mitte seines Lebens. Damals hatten sich ihm diese Fragen gestellt, und plötzlich waren alle Gewissheiten dahin. Nun galt es, ehrlich zu sein. Ehrlich gegenüber sich selbst und menschlich gegenüber denen, die ihm viel bedeuteten. Jede Krise ist ein Trennen, ein Aussieben. Was tot ist, muss zurückgelassen werden. Eine Läuterung muss stattfinden. Es muss etwas abgeworfen werden, wenn das Leben weitergehen soll. Doch wer kann Rat geben? Wer kann hier ein guter Führer sein?
    Johannes erinnert sich an den klösterlichen Gehorsam, das Hören, das Gegenwärtig-Sein. Doch die Wachsamkeit allein ist nicht genug. Geduld muss hinzukommen, Bereitschaft, die Dinge in der Schwebe zu halten, sich im Wendepunkt zu sammeln, Vertrauen zu haben. Manchmal ist es ein Zufall, ein überraschendes Erlebnis, die Begegnung mit einem Menschen – und plötzlich ist alles neu.
    Die Mönche haben das Mahl beendet. Johannes erhebt sich und erteilt ihnen den Segen, der ihnen Mut machen soll, von neuem aufzubrechen.

5. Kapitel
    Als Johannes aus seiner Ohnmacht erwachte und langsam die Augen aufschlug, sah er, wie Jacques sich über ihn beugte und seine Stirn mit Wasser kühlte. Es war bereits Tag geworden.
    Nur langsam kam Johannes zu sich, und erst allmählich kehrte die Erinnerung an das, was in der Nacht geschehen war, zurück. Er richtete sich auf, doch vergebens suchte er nach einem Tier, das am Boden lag.
    «Alles ist gut», sagte Jacques.
«Was ist geschehen?», fragte Johannes benommen. Jacques antwortete nicht. Stattdessen gab er ihm zu trinken
    und half ihm, sich aufzurichten. Gemeinsam gingen sie über die Lichtung zum Hof, wo der Bauer Hirsebrei und Wasser bereitgestellt hatte. Schweigend nahmen sie ihr Mahl ein.
    Johannes wurde sich erst jetzt bewusst, in welch großer Gefahr er sich befunden hatte. Er schaute hinüber zu Jacques, der den Blick des Jungen nicht erwiderte, aber dessen Unruhe wohl bemerkte.
    «Was, glaubst du», fragte er, «hat dich gestern angegriffen?» «Ich konnte nichts erkennen. Es mag nicht ganz so groß gewesen sein wie ein Wolf. Aber es war schneller, geschmeidiger und gefährlicher.»
    Johannes überlegte.
«Der Angriff kam überraschend und konzentriert. Was immer es gewesen ist, es war so, wie ein gelungener Schuss mit dem Bogen sein sollte.»
    Jacques nickte, sagte aber nichts.
«Dieses Tier? Was könnte es gewesen sein?», fragte Johannes. Jacques blickte auf.
«Ich habe es nicht gesehen.»
«Aber Ihr kennt Euch in dieser Gegend aus. Was könnte es
    gewesen sein?»
«Kennst du ein solches Tier?», fragte Jacques zurück. Johannes schüttelte den Kopf.
«Auf unserem Hof und in den Wäldern habe ich vieles kennengelernt, aber kein Tier, das zu einem solchen Angriff in der Lage gewesen wäre.»
    Jacques nahm den Brotlaib und brach ein Stück heraus. «Dann war es ein Tier, das du nicht kennst, oder …» Er lächelte.
«Oder?», fragte Johannes.
«Oder es war kein Tier», ergänzte Jacques seinen Satz. Johannes blickte ihn überrascht an.
«Du weißt, dass wir auch in der Kunst des Bogenschießens
    unsere Einbildungskraft nutzbar machen», fuhr Jacques fort. «Wenn du den Bogen spannst, bist du der Bogen. Wenn du den Pfeil ausrichtest und loslässt, bist du der Pfeil.»
    «Ich verstehe dich nicht», entgegnete Johannes.
«Du verstehst mich sehr gut. Dein Verstand versteht mich nicht. Das ist etwas anderes. Es war auch nicht dein Verstand, der dich gerettet hat. Aber dein Schuss war meisterlich.»
    Während ihres Rittes durch dichten Wald dachte Johannes immer wieder über die wenigen Sekunden nach, die ihm in der letzten Nacht fast das Leben gekostet hatten. Wie konnte Jacques das zulassen? War er doch für

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