Das Vermächtnis des Templers
gewöhnlich umsichtig und erkannte die Gefahr sofort.
Dann musste Johannes an die Begegnung mit den Wölfen denken. Hatte er nicht auch damals die Vermutung gehabt, Jacques wäre bewusst ein Risiko eingegangen, um ihn einer besonderen Herausforderung auszusetzen? Damals waren es Wölfe gewesen. Diesmal schien es Johannes, als habe er einem Wesen gegenübergestanden, das nicht von dieser Welt war. Gegen die Wölfe hatte er sich behauptet, weil er innere Kraft und Entschlossenheit gezeigt hatte. Das Wesen, dem er gestern begegnet war, hatte sich durch nichts, aber auch gar nichts beeindrucken lassen. Mit völliger Anspannung und unbeirrbarer Entschlossenheit war der Angriff erfolgt. Ein Verteidiger, der nicht die gleichen Eigenschaften besessen hätte, wäre verloren gewesen.
Gegen Mittag hatten sie den Wald verlassen. Vor ihnen lag eine weite Ebene. Felder rechts und links des Weges, soweit das Auge reichte. Jacques ließ das Pferd anhalten. Johannes tat es ihm nach und beobachtete, wie sein Lehrer den Bogen vom Sattel löste. Doch anstatt seinen Schüler aufzufordern, die Übungen fortzusetzen, nahm Jacques sogleich auch die Satteltasche mit der Verpflegung vom Pferd.
Wenig später saßen sie schweigend am Boden und teilten sich Brot und Wasser. Johannes blickte zurück zum Waldrand, und erneut musste er an den unbekannten Gegner der vergangenen Nacht denken.
«Wir erreichen heute Abend unser Ziel, die Bischofsstadt Laon», sagte Jacques. «Dort erwartet dich etwas sehr Wichtiges. Du wirst morgen in den Orden aufgenommen.»
Johannes blickte auf.
«Jetzt schon?», fragte er überrascht.
«Ja, es ist Zeit», antwortete Jacques. «In diesen Tagen geschieht vieles, das mir nicht erlaubt, weiter bei dir zu sein. Aber das ist auch nicht mehr nötig. Was ich dir beibringen konnte, hast du gelernt.»
Johannes blickte seinen Lehrer ungläubig an.
«In der letzten Nacht», fuhr Jacques fort, «hast du gezeigt,
dass du die Kunst des Bogenschießens meisterlich beherrscht. Dein Verhalten war vortrefflich, ohne den geringsten Makel. Von nun an kann ich dich nichts mehr lehren.»
«Aber es war doch nur ein einziger Schuss», entgegnete Johannes.
«Es war der eine Schuss, der nötig ist, damit auch alle künftigen vortrefflich sein werden. Ein vollendeter Schuss. Alles, was nun zu lernen ist, wirst du selbst erlernen können. Das musst du sogar, denn du wirst von nun an deinen eigenen Bogen führen.»
Jacques stand auf, nahm den Bogen, den er neben sich abgelegt hatte, und reichte ihn Johannes.
«Dieser Bogen gehört nun dir. Zwei Jahre habe ich mit ihm geschossen. Er wird seine Kraft auf dich übertragen. Und mit der Zeit wird er mehr und mehr zu deinem Bogen werden. Das ist wichtig. So, wie du nun deine ganz eigene Kunst des Bogenschießens entwickeln wirst.»
Auch Johannes war aufgestanden.
«Ich bin unsicher, ob ich Eure Erwartungen erfüllen kann», sagte er zögernd.
«Du wirst sie erfüllen, das weiß ich. Von nun an müssen wir den Weg nicht mehr gemeinsam gehen. Selbst wenn Meere zwischen uns liegen, wirst du mich bei dir wissen, wenn du den Bogen spannst. Nun brauche ich dich nicht mehr aufzufordern, das Bogenschießen weiterhin zu üben, weil es zutiefst in deinem Inneren lebt. Nimm den Bogen. Und gib ihn niemandem, der seiner nicht würdig ist.»
Zaghaft nahm Johannes den Bogen in die Hand. Dann kamen ihm die Tränen, und sein Lehrer umarmte ihn.
«Ich habe noch etwas für dich», sagte Jacques schließlich, hob etwas vom Boden und hielt es dem Jungen entgegen. Es war ein Pfeil. Johannes erkannte sofort, dass es jener Pfeil war, den er in der Nacht dem unsichtbaren Angreifer entgegengeschossen hatte. Er nahm ihn in die Hand und bemerkte, dass kein Blut daran war, keine Hautfetzen, keine aufgewühlte Erde. Es war ganz so, als hätte dieser Pfeil seinen Bogen nie verlassen.
Noch einmal trafen sie auf einen Fluss. Bei der Durchquerung der Furt bewegten sich die Pferde drei Ellen tief im Wasser und mussten sich gegen die Strömung stemmen. Dann führte der Weg weiter entlang der Felder in Richtung Osten.
Am Nachmittag sahen sie in der Ferne eine Anhöhe, die Johannes sehr an Château Gaillard erinnerte. Je näher sie kamen, desto deutlicher erkannte er, dass es sich hier wohl nicht um eine Burg handeln konnte, denn auf diesem Berg, der sich vor ihnen über die Ebene erhob, erblickte er nicht nur eine Verteidigungsmauer, sondern die Türme einer großen Kirche, die hoch zum Himmel aufstrebten, als wollten sie bis in
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