Das Vermächtnis des Templers
Gasse, die, sehr zu Johannes‘ Verwunderung, gepflastert war. Rechts und links davon reihte sich nun Haus an Haus. Die meisten dieser Gebäude waren aus Stein errichtet.
Je weiter sie ins Innere der Stadt kamen, desto belebter wurde die Gasse. Männer und Frauen gingen ihren Geschäften nach. Kinder spielten auf der Straße. Hühner liefen kreuz und quer. Und manchmal waren Ziegen und Schweine vor einem der Häuser angebunden. Bald wurde es schwer, mit den Pferden vorwärtszukommen.
Sie erreichten einen weiteren Platz, auf dem Händler Obst, Gemüse und Fleisch verkauften. Johannes erblickte über die Häuser hinweg die Türme der großen Kathedrale. Doch schon verschwand Jacques in der nächsten Gasse.
So folgte er ihm und bemerkte auf dem Weg, wie farbenfroh die Menschen gekleidet waren. In den Klöstern kannte man nur einfaches Tuch, und die Bauern, die ihm auf der Reise begegnet waren, hatten ebenfalls nur grobe, meist erdfarbene Kleidung getragen. Hier war es ganz anders. Johannes fiel auf, dass die Frauen in Laon ihr Haar entweder offen trugen oder in kunstvoll geknoteten Tüchern verbargen, nicht ohne einzelne Locken hervorblicken zu lassen.
Noch einmal überquerten sie einen Platz. Johannes hatte Jacques wieder eingeholt.
«Wir haben die Gasse der Ordenshäuser erreicht», sagte der.
Johannes schien es nicht so, als würden sich die Steinhäuser zur Rechten und zur Linken von denen, die er bislang gesehen hatte, unterscheiden. Als er im Vorübergehen einen Blick in eine der Seitengassen warf, hatte er für einen Moment lang freie Sicht auf den Vierungsturm der großen Kathedrale. Doch Jacques ging unbeirrt weiter und machte seinen Schüler auf eines der Häuser aufmerksam.
«Das ist die 28. Hier hat der Orden der Zisterzienser seine Unterkunft. Du wirst sie bald besuchen können. So erhältst du auch Kontakt zu den Augustinern, die im Haus 44 eine Schule eingerichtet haben. Das interessiert dich sicherlich. Schon der große Abaelard hat hier gelehrt und seine Schriften gegen Anselm von Canterbury verfasst.»
«Wo ist die 44?»
«Hab einen Moment Geduld. Hier siehst du zunächst die 36 und 38, ‹Le Petit Cuissy›, der Sitz der Prämonstratenser. Daneben das Haus 40 gehört den Kartäusern. Sie nennen es ‹Le Petit Val-Saint-Pierre›. Und dann folgt die 42. Der Bettlerorden des Franz von Paula hat darin seine Unterkunft.»
«Warum befinden sich diese Häuser alle auf der rechten Seite der Gasse?», wollte Johannes wissen.
«Hinter diesen Gebäuden sind meist Gärten angelegt, die sich bis zum Abhang des Berges erstrecken. Von dort kann man weit in die Ebene nach Süden blicken. Das ist ein wunderbarer Ausblick.»
Jacques führte seinen Schüler weiter durch die Gasse. Schon erreichten sie den Ordenssitz der Augustiner. Doch Jacques machte seinen Schüler auf das gegenüberliegende Haus aufmerksam, über dessen Eingangspforte ein kleines Relief zu erkennen war: Es zeigte das Lamm mit dem Kreuz.
«Wir sind angekommen», sagte Jacques.
Das Haus der Templer besaß im Erdgeschoss einen großen Speisesaal. Gegen Abend trafen sich dort die Ordensritter zur Vesper. Sie hatten das Stundengebet gesprochen und waren dann hierher gekommen, um schweigend ihr Mahl einzunehmen. Nur der Vorbeter war zu vernehmen. Er trug in gleichmäßigem Gesang einen Psalm vor, während die Brüder Lammfleisch, Weißkraut und helles Brot aßen und dazu Rotwein tranken, der mit Wasser verdünnt war. Jacques und Johannes hatten zuvor ihre Zimmer bezogen. Dem Jüngeren war ein kleiner, einfacher Raum zugewiesen worden, in dem sich Bett, Tisch, Stuhl und ein Lesepult befanden. Ein Fenster erfüllte den Raum mit Licht. Von hier aus konnte man auf die Gasse hinabschauen.
Nun nahmen sie teil am gemeinsamen Essen der Ordensbrüder, die die Anwesenheit der Neuankömmlinge offenbar nicht als ungewöhnlich empfanden.
Nach dem Essen teilte Jacques seinem Schüler mit, dass sie die Stundengebete heute nicht mehr besuchen würden. Johannes nahm diese Nachricht dankbar auf, denn der Ritt war anstrengend gewesen. Über die schmale Treppe begab er sich in sein Zimmer, legte sich auf das Bett und war sofort eingeschlafen.
In der Nacht wurde er geweckt. Jacques rüttelte ihn wach. «Es ist soweit», sagte er. «Ein neuer Tag. Die Vigil rückt näher.» Er reichte dem Jungen einen schwarzen Umhang. «Zieh das an. Wir werden gehen.»
Schlaftrunken folgte Johannes seinem Lehrer die Treppe
hinab. Durch eine kleine Pforte verließen sie das Haus auf der
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