Das Vermächtnis des Templers
die Wolken wachsen.
«Das ist Laon», sagte Jacques, ließ sein Pferd anhalten und blickte voraus. «Uneinnehmbar. Ein Ort des Glaubens. Der gekrönte Berg. Dort erwartet man uns.»
Etwa eine Stunde später begann Johannes zu verstehen, was Jacques meinte. Ihr Weg hatte sie in einiger Entfernung am Berg entlanggeführt und machte nun einen Bogen direkt auf ihn zu. Bislang war ihnen nur seine schmale Seite sichtbar gewesen, doch nun konnten sie erkennen, dass er sich viele hundert Meter parallel zur Bahn der Sonne erstreckte. Dort oben, höher als sie es in Château Gaillard erlebt hatten, musste sich hinter den mächtigen Verteidigungsmauern eine ganze Stadt befinden. Nun erkannte Johannes deutlich die hoch aufragende Kathedrale mit ihren fünf Türmen sowie weitere, kleinere Kirchen.
Bald schlängelte sich der Weg aufwärts. Je mehr sie sich näherten, desto beschwerlicher wurde der Ritt. Bald konnten sie auf die Ebene hinabblicken. Johannes entdeckte in der Ferne den Fluss, den sie vor Stunden durchquert hatten. Einige hundert Meter vor dem Stadttor wurde es so steil, dass sie vom Pferd steigen und zu Fuß weitergehen mussten. Rechts des Weges erreichten sie ein kleines, verfallenes Häuschen. Jacques ließ sein Pferd stehen und winkte seinem Schüler, ihm zu folgen. Nachdem sie die Pforte durchschritten hatten, erwartete sie Schatten und ein großer Brunnen, in den aus einer Öffnung im Felsen Wasser floss. Jacques tauchte seinen Kopf in das kühlende Nass, reinigte Hände, Arme und Füße. Johannes tat es ihm nach.
«Das tut gut», sagte er.
Jacques musste lachen.
«Wenn du wüsstest.»
Johannes blickte ihn fragend an.
«Auf dem Berg hat sich vor vielen hundert Jahren ein Heiligtum befunden, das dem Lichtgott Lug geweiht war. Wer den Berg betreten wollte, musste sich zuvor waschen. In diesem Haus.»
«Ein Lichtgott? Von solch einer Religion hörte ich noch nie.» «Es ist so lange her, dass niemand mehr Genaues weiß. Ich hörte von einer Sage, die an den Lichtgott erinnert. Und es mag etwas dran sein, an der Geschichte. Schließlich verläuft der Bergrücken entlang der Sonnenbahn. Und man ist dem Licht hoch oben näher als in der Ebene, die wir hinter uns gelassen haben. Man steigt auf zum Licht.»
Jacques lachte und schüttelte sich das Wasser von den Armen.
Sie verließen das Brunnenhaus und gingen weiter auf dem Weg, der sie bald an ein großes Stadttor führte, das von zwei Rundtürmen und einem Quergang gebildet wurde. Durch eine hohe Pforte, die nach oben in einem Spitzbogen endete, gewährten ihnen die Wächter Einlass.
Unmittelbar hinter der Pforte bemerkte Johannes, dass man zur Linken über die Stadtmauer blicken konnte. In der Ferne sah er die Ausläufer des Waldes, durch den sie geritten waren. Der Weg verlief weiter aufwärts und führte sie auf einen von Steinhäusern umgebenen Platz. Hier erblickte Johannes eine Kirche, deren Westfront teilweise im neuen Stil erbaut worden war. Zwei schmale Türme ragten in die Höhe. Über den drei Portalen, durch die man in das Innere der Kirche gelangte, befand sich ein großes, kunstvoll gestaltetes Spitzbogenfenster. Fünf senkrecht angeordnete Glasfenster bildeten die Basis für einen farbenprächtigen Stern, der rechts und links je von einem rosettenförmigen Fenster eingefasst wurde. Auf einer weiteren Ebene darüber befand sich ein Giebelrelief, in dem ein Mann zu Pferd und ein Engel abbildetet waren.
Jacques hatte bemerkt, dass sein Schüler all dies aufmerksam beobachtete.
«Diese Kirche ist dem heiligen Martin geweiht», erklärte er. «Es ist die Kirche des Ordens der Prämonstratenser. Ihr Kloster befindet sich nicht hier in Laon, sondern im Wald von Prémontré, gut eine Stunde von hier.»
Johannes war verblüfft.
«Warum hat der Orden dann hier eine Kirche?»,
«Manchmal ist Laon ein Zufluchtsort. Wenn Krieg ausgebrochen ist oder räuberische Banden das Land verwüsten, suchen die Menschen auf dem Berg Schutz. Das gilt auch für viele Mönchsorden, die ihre Klöster in der Nähe haben. Sie alle flüchten bei Gefahr hierher. Und alle besitzen ein Haus, in dem sie unterkommen können. Die Prämonstratenser haben Laon aus Dankbarkeit eine Kirche geschenkt. Und da sind sie nicht die einzigen.»
«Die große Kathedrale, ist sie auch so entstanden?»
«Nein. Viele haben sich daran beteiligt. Es wäre sicherlich nicht gut, wenn ein solch eindrucksvoller Bau einem einzelnen Orden gehören würde.»
Sie verließen den Platz und folgten weiter der
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