Das Vermächtnis des Templers
hinaus in die Kühle der Nacht. Hier forderte er ihn auf, sich auf den Boden zu setzen und zu warten.
Der Mann kehrte zurück in die Kapelle und ließ Johannes allein. Aufmerksam hörte er auf die Stimmen der Vögel, die die Stille der Nacht fühlbar machten, bemerkte, dass sich für kurze Zeit etwas unmittelbar vor ihm bewegte, so als ob es ihn mustern wollte. Dann meinte er, Geräusche zu hören, die von weit her an sein Ohr drangen. Fast war es wie ein Flüstern, das er zu sinnvollen Lauten hätte zusammensetzen können, doch schien es ihm wie eine fremde Sprache.
Nach einer Zeit, die er nicht ermessen konnte, spürte er eine Hand auf seiner Schulter, und jemand forderte ihn auf, sich zu erheben.
Wieder betrat er den Vorraum der Kapelle, wurde in den inneren Kreis geführt und von seiner Augenbinde befreit. Der Ordensmeister trat zu ihm, gab ihm ein kunstvoll ausgeschmücktes Pergament und forderte ihn auf vorzulesen.
«Herr», begann Johannes zu sprechen, «ich bin vor Euch und vor die Brüder getreten, die mit Euch sind, um die Aufnahme in die Gemeinschaft des Ordens zu erbitten.»
Noch zweimal musste Johannes diese Formel wiederholen. Dann kam einer der Brüder auf ihn zu, öffnete vor seinen Augen das Buch der Bücher, aufgeschlagen dort, wo das Evangelium des heiligen Johannes beginnt, wies ihn an, die rechte Hand auf diese Seite zu legen und die folgenden Worte zu hören.
«Ihr müsst bei Gott geloben, dass Ihr dem Meister des Tempels stets gehorchen werdet, dass Ihr die Keuschheit, die guten Sitten und die Gebräuche des Ordens einhalten werdet, dass Ihr besitzlos leben werdet und nur das behaltet, was Euch Euer Oberer gibt, dass Ihr alles Euch Mögliche tun werdet, das zu bewahren, was im Königreich Jerusalem erworben wurde, dass Ihr Euch niemals dort aufhaltet, wo man Christen unrechtmäßig tötet, ausraubt und um ihr Erbe bringt. Wenn Euch Güter des Tempels anvertraut werden, so schwört, gut über sie zu wachen. Und gelobt, niemals und unter keinen Umständen den Orden ohne den Segen Eurer Vorgesetzten zu verlassen.» «Ich gelobe», sagte Johannes mit fester Stimme.
Der Ordensmeister kam auf ihn zu, befahl ihm, sich aufzurichten, und umarmte ihn.
«Wir nehmen Euch auf bis zum Ende Eurer Tage», sagte er.
Nacheinander traten die Brüder zu Johannes, und auch sie umarmten ihn. Schließlich war es Jacques, der seinen Schüler als letzter beglückwünschte.
«Gehe hin», sagte er, «Gott wird dich besser machen.»
Gemeinsam stimmten die Brüder das Responsorium an. Dann sprach der Ordensmeister das Benedicamus und schloss damit das Stundengebet.
Einige Augenblicke später war die Kapelle verlassen. Johannes stand nun allein im Raum, bis Jacques zurückkam und ihn leise ansprach, mit ihm zu kommen.
Zur Prim wurden die Mönchsritter im Ordenshaus der Templer von einer Glocke geweckt. Sie begaben sich erneut zur Kapelle, um das Stundengebet zu verrichten. Johannes war nun unter ihnen. Er trug nicht mehr den schwarzen Umhang, sondern den weißen Mantel mit dem roten Tatzenkreuz. Das Gebetsritual verlief auch zu dieser Stunde so, wie er es von Loccum und Jumièges her kannte. Johannes richtete einen Teil seiner Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten der von Kerzen erleuchteten Kapelle. Im Dunkeln hatte es den Anschein gehabt, als befände er sich in einem völlig runden Raum. Acht Säulen trugen die kleine Kuppel der Kapelle. Von jeder dieser Säulen führte ein Deckenbogen unmittelbar auf kurzem Wege zur Außenwand, zwei weitere Bögen streckten sich in größerer Länge jeweils nach rechts und links, kreuzten sich mit den entsprechenden Bögen der angrenzenden Säulen und bildeten zwischen Säulenkreis und Außenwand Kreuzjoche, insgesamt acht an der Zahl. Von jeder Säule führte zudem ein Bogen zur Mitte der Kuppel. Dort, wo sie zusammenliefen, befanden sich Schlusssteine, und genau im Zentrum sah er eine Reliefabbildung des Lamms mit dem Kreuz. Direkt gegenüber dem Eingang der Vorhalle bemerkte Johannes nun eine weitere Öffnung, die zu einem kleinen Chorraum führen musste, der jedoch nicht erleuchtet war.
Nachdem der Ordensmeister den Segen erteilt hatte, verließen die Männer die Kapelle, gingen schweigend zurück zum Ordenshaus und versammelten sich im Refectorium. Dort stellten sich die älteren Brüder an der rechten, die jüngeren an der linken Wand des Raumes auf. Erst als der Meister am vorderen Ende des Tisches ein kurzes Gebet gesprochen und sich bekreuzigt hatte, nahmen sie Platz.
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