Das Vermächtnis des Templers
Johannes fand vor sich einen Teller und einen Löffel aus Holz sowie zwei Humpen, von denen der eine mit Wasser gefüllt war. Als die Brüder Platz genommen hatten, betraten Laienmönche den Saal, trugen große Holzschalen mit gesottenem Fisch, Bohnen und Weizenbrezel herein und füllten die Teller. Während des Essens herrschte absolutes Schweigen. Nur die Stimme des Vorlesers erfüllte den Raum.
Nachdem der Meister sich erhoben und die Segensworte gesprochen hatte, verließen die Brüder das Refectorium. Jacques machte Johannes ein Zeichen zu warten. Schließlich blieben sie allein in dem großen Raum zurück.
«Ich werde dich jetzt verlassen», begann Jacques. «Wichtige Dinge müssen vorbereitet werden. Aber ich weiß, dass du hier gut aufgehoben bist.»
Er zögerte kurz.
«Laon ist der Verwaltungssitz der Picardie, eines von fünf Departements der Templer in Frankreich. Der Bischof von Laon gehörte einst zu den Gründungsmitgliedern des Ordens, und so ist die Picardie heute noch ebenso angesehen wie Burgund. Der abendländische Zweig des Ordens hat hier einen wesentlichen Teil seiner Verwaltung, weil Laon fernab von jeder Gefahr gelegen ist und aufgrund seiner Höhenlage wohl kaum von feindlichen Heeren eingenommen werden kann.»
«Aber das bedeutet doch auch», wandte Johannes ein, «dass ein Tempelritter hier wohl kaum kämpfen muss.»
Jacques nickte.
«Heute in der Frühe hat man dir die Wahrheiten des Templerlebens verkündet. Du wirst dort deine Aufgabe haben, wo die Meister und Großmeister des Tempels es gutheißen.»
«Aber ich bin zum Krieger ausgebildet worden», entgegnete Johannes.
«Du hast recht. Und ich bin stolz auf dich, denn du hast deine Kunst zur Vortrefflichkeit entwickelt. Täglich wird es deine Aufgabe sein, dein Talent weiter zu pflegen. Doch du hast auch andere Dinge gelernt. Hier in Laon fehlt es an sprachkundigen Brüdern. Du bist im Lateinischen und Griechischen bewandert. Das sind jene Sprachen, die vom Orient bis zum Okzident von den Weisen gesprochen werden. Latein ist zugleich die Sprache der Verträge und der Wechsel. Hier wirst du deinem Orden helfen können.»
Johannes blickte ihn erstaunt an.
«Bislang habe ich theologische Texte gelesen.»
«Du wirst sicherlich auch weiterhin die Gelegenheit haben, dies zu tun», sagte Jacques. «Deine Liebe zu den Büchern ist mir nicht unbemerkt geblieben. Doch die Kunst der Sprache dient auch dem Orden. Du wirst schnell lernen, diese Dinge zu verstehen. Der Ordensmeister wird dich persönlich darin einführen und absolute Verschwiegenheit von dir erwarten, denn deine Aufgabe ist wichtig und verlangt Vertrauenswürdigkeit.»
Jacques lächelte.
«Aber vergiss den Bogen nicht.»
Johannes verstand und musste ebenfalls lächeln.
«Nun ist es Zeit», sagte Jacques. «Ich kann nicht sagen, wann ich wieder in Laon sein werde. Doch meine Gedanken sind bei dir.»
Einige Zeit später standen sie vor dem Ordenshaus in der Gasse. Alle Brüder waren zugegen und verabschiedeten sich nacheinander von Jacques. Johannes durfte als letzter seinen Lehrer umarmen.
«Möge Gott mit dir sein», sagte der.
«Möge Gott mit Euch sein», erwiderte Johannes.
Jacques nahm die Zügel seines Pferdes und führte es die Gasse hinab. Noch einmal drehte er sich um und grüßte. Johannes sah ihm nach. Er war wieder allein.
Zur Terz hatten sich die Brüder ein drittes Mal an diesem Tag in der Kapelle versammelt. Johannes war während der Gesänge abgelenkt gewesen. Eine innere Unruhe hatte seine Gedanken immer wieder in die Vergangenheit wandern lassen: Abschied von den Eltern. Abschied vom Kloster. Abschied von seinem Lehrer. Sollte sein Leben eine Kette von Abschieden werden? Die Terz ist die Stunde der Geistausgießung. Doch heute hatte diese Stunde ihren Zauber nicht bewirkt.
Nach dem Gebet erwartete Johannes, dass der Ordensmeister ihn anspräche, aber das geschah nicht, und so kehrte er mit den Brüdern durch den Garten ins Ordenshaus zurück, ging auf sein Zimmer und wartete, ohne zu wissen worauf.
Nach einer Weile griff er sich den Bogen und die Pfeile, ging hinab in die Gasse und lief den Weg entlang, den sie gestern gekommen waren. Bald war er von vielen Menschen umgeben, doch er nahm sie kaum wahr, bemerkte nur, dass sie diesem Mönch verwundert nachblickten, der kein Schwert, sondern einen Langbogen mit sich trug.
Johannes passierte das große Tor und erreichte das Brunnenhaus. Dort kühlte er die Arme und sein Gesicht. Dann schritt er weiter hinab,
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