Das Vermächtnis des Templers
gezogen wurde. Auf halber Höhe blickten sieben Wasserspeier, dämonische Wesen, auf den Betrachter hinab und zugleich hinüber zum gegenüberliegenden Bischofspalast, den Johannes nun ebenfalls näher betrachtete. Auch hier wuchsen Türme in die Höhe, reihten sich schmale, im Spitzbogen auslaufende Fenster, die die Architektur der Kathedrale widerzuspiegeln schienen.
Alanus hatte geraten, den Platz zu überqueren und jenen Weg zu gehen, der nördlich hinter dem Palast begann und an der Stadtmauer entlang führte. So fand Johannes nach kurzer Zeit einen großen Sandplatz, der zum Hang hin durch die Mauer begrenzt war. Von hier aus hatte man freien Blick auf das weite Land in der Ebene. Einige Bäume standen am Rande, und Johannes erkannte sogleich, dass sich dieser Platz aufgrund seiner Größe und Abgeschiedenheit tatsächlich gut zum Bogenschießen eignete.
Auf dem gleichen Weg kehrte er zurück, erreichte bald wieder den Platz des Bischofspalastes und ging weiter an der Nordseite der Kathedrale entlang. Zwar hatte Alanus angeboten, ihn zu führen und ihm all sein Wissen über dieses Bauwerk mitzuteilen, aber es konnte nicht schlecht sein, einen ersten Eindruck zu gewinnen. So erreichte er die Westfassade.
Deutlich waren hier die verschiedenen Höhenebenen unterscheidbar. Johannes sah sich drei Portaltoren gegenüber, die in steinerne Spitzbögen gefasst waren und von denen das mittlere die beiden zur Rechten und zur Linken an Umfang übertraf. Den größten Teil der Fläche darüber nahm eine Fensterrose ein. So wie an der Ostfassade bildete eine Galerie die oberste Ebene, die nur von den beiden mächtigen Türmen rechts und links überragt wurde. Johannes ging auf das mittlere Portal zu, über dem sich ein Relief befand, das einen König und eine Königin zeigte, denen von der Seite Kelche und Schalen zugetragen wurden. Diese Szene wurde eingerahmt von aufwärts zulaufenden Bögen, von denen ihm gut drei Dutzend Fabelwesen entgegenblickten. Johannes konnte all dies nicht deuten, doch etwas anderes verwunderte ihn weitaus mehr: Über der Pforte hing ein gut zehn Ellen langer Knochen herab, und der war eindeutig nicht aus Stein. Johannes wusste sicher, dass dies weder ein Bein- noch ein Rippenknochen sein konnte. Doch was war es dann? Und welches Tier war so groß?
Noch immer verblüfft durch dieses seltsame Gebilde, trat er durch die Pforte und blickte nun in einen langen, hoch aufstrebenden Raum, der von allen Seiten hell erleuchtet war. Lichtstrahlen fielen rechts und links des Hauptschiffes herab, trafen sich mit den Farben, die das große Rosenfenster der Westfassade herabwarf. Johannes ließ diesen Zauber auf sich wirken und wagte nicht weiterzugehen. Eine ganze Weile blieb er gebannt im Eingang stehen. Dann sprach ihn jemand an, und erst jetzt bemerkte er, wie sehr dieser Anblick seine Sinne fesselte. Zugleich wurde ihm bewusst, dass in der Kapelle der Templer bald das Stundengebet beginnen würde.
Von nun an verbrachte Johannes seine Vor- und Nachmittage im Scriptorium. Die Arbeit an den Manuskripten wurde lediglich durch die Stundengebete und das gemeinsame Mittagsmahl der Mönche unterbrochen. Hier lernte er Franziskus und Markus kennen, die ebenfalls die Aufgabe hatten, die Dokumente des Ordens zu bearbeiten. Wie Alanus vorausgesagt hatte, bemerkte Johannes bald, dass all diese Schriftstücke auf ähnliche Weise abgefasst waren. Im Wesentlichen ließen sie sich in zwei Gruppen einteilen: die Wechsel, die nach einer vorgegebenen Ordnung archiviert und verzeichnet werden mussten, und die Kontrakte oder Lehnsurkunden, die auf ihre Fälligkeit und Einhaltung zu prüfen waren. Diese Tätigkeit hatte Johannes recht bald erlernt, weil sie sich ständig wiederholte. Weniger leicht fiel es ihm, mit den Zahlensymbolen umzugehen. In den Dokumenten des Scriptoriums wurden zudem sehr häufig Ziffern verwendet, die er nicht kannte. Markus erzählte ihm, dass die Templer Zahlen benutzten, die sie im Orient kennengelernt hätten. Damit ließe sich besser und schneller arbeiten. Die ersten zehn hatte Johannes schnell verstanden, doch die Notierung der Zahlen jenseits davon war für ihn sehr verwirrend. Und dann gab es eine Zahl, die keinerlei Wert hatte, aber dennoch von besonderer Wichtigkeit war. Im Wechsel versuchten Alanus, Markus und Franziskus dem Neuen den Umgang mit diesen Ziffern, vor allem auch das Zusammenfassen und Abziehen zu verdeutlichen. Besonders schwer wurde es für Johannes, die Kunst zu
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