Das Vermächtnis des Templers
Formen zu bilden.
«Es ist die Kraft der Sonne, die all dies schafft», antwortete er. «Aber ohne das Glas der Kathedrale würde die Vielfalt der Farben nicht entstehen.»
Alanus nickte.
«Das Glas ist die Kunstfertigkeit der Menschen. Sie macht das Licht in seiner Vielfalt erfahrbar. Und sie beweist dessen Bedeutung, denn in völliger Dunkelheit würde alles Menschenwerk nichtig sein. Das Licht ist die Kraft, die den Farben erst ihren Charakter verleiht. Die Farben veranschaulichen den Sieg des Lichts über die Finsternis. Und dieses Licht ist Gott.»
Johannes wusste nicht zu antworten, denn das, was Alanus sagte, erschien ihm beeindruckend und wahr zugleich. Er blickte hinauf zur obersten Galerie mit all ihrem farbigen Glas.
«Nimm das Licht fort, und alle Dinge werden unerkannt in der Finsternis bleiben», sagte Alanus. «So erscheinen auch die Sterne unserem Blick sehr schön, obwohl sie doch keine Schönheit aus sich heraus haben. Ohne Licht, ohne Gott, gibt es kein Leben. Am Morgen leuchtet das Licht vom Osten her, über dem Altar, dem Throne Christi, am Tage durchstreift es die Kathedrale, erleuchtet sie. Am Abend geht es im Westen unter, verlöscht, beginnt am Morgen von neuem und zeigt das Leben des Menschen an: Geburt, Leben im Lichte Gottes, Sterben, Erlösung und Auferstehung.»
Johannes ging einige Schritte weiter und beobachtete, wie sich das Spiel der Farben dadurch wandelte.
«Aber es erscheint, als ob wir Menschen wählen können, wie wir zum Licht stehen, eben durch unser Hin- und Hergehen.»
«Das ist richtig.» Alanus nickte. «Je nachdem, wo du stehst und wohin du gehst, ändert sich für dich das Licht. Das Licht selbst bleibt davon jedoch unbeeindruckt. Du kannst es nicht dazu bewegen, etwas zu tun. Du kannst nur annehmen, was es dir schenkt. Und dankbar sein, dass es da ist. Und wenn du weitergehst, weiter zur Vierung und zum Chor, wirst du dem Licht näher kommen, es deutlicher erkennen. Denn dort ist das Licht auch intensiver. Nach und nach musst du lernen, in das Licht zu blicken.»
Johannes wollte weitergehen, doch Alanus hielt ihn auf.
«Halt, warte», sagte er. «Wir sind doch eigentlich wegen der Zahlen hier. Dreh dich noch einmal um.»
Sie wandten sich zur Pforte, durch die sie die Kathedrale soeben betreten hatten.
«Wieviele Eingänge hat die Kathedrale?»
«Drei», antwortete Johannes kurz.
«Richtig. Drei Zugänge stehen uns Menschen offen: der Weg des Vaters, der Weg des Sohnes und der Weg des Heiligen Geistes.»
Johannes schüttelte den Kopf.
«Diese Kathedrale hat drei Eingänge. Das ist offenkundig. Aber was du sagst, ist eine recht abenteuerliche Spekulation.»
«Es ist keine Spekulation. So wie nichts in dieser Kirche zufällig geschaffen wurde. Wende dich wieder um und zähle die Säulen, sowohl die auf der rechten wie die auf der linken Seite. Die mächtigen Säulen des Übergangs zur Vierung musst du mitzählen.»
Johannes ging weiter dem Licht entgegen und zählte zwölf Säulen zur Rechten und zur Linken, die das Mittelschiff von den beiden Seitenschiffen abgrenzten.
«Auch diese Zahl hat Bedeutung. Die Säulen zur Rechten symbolisieren die zwölf Apostel und zugleich die zwölf Stämme Israels, die Säulen zur Linken die großen Heiligen. Jede dieser Säulen hat einen Namen. Auch dein Name findet sich darunter. Und dort, wo Mittelschiff, Chor und Querschiffe zusammengeführt werden, im Mittelpunkt der Kathedrale, hängt das Kreuz vom Vierungsturm herab. Jesus selbst verbindet die Apostel, die Heiligen und alle anderen Menschen mit dem Göttlichen, das du im Chorraum findest.»
Sie gingen weiter, vorbei am Altar, der sich unter dem Kreuz befand, das wohl fünf Ellen darüber schwebte, und betraten den Chorraum. Dieser war vom Licht hell erleuchtet, das durch die große Fensterrose einfiel.
«Wie viele Säulen siehst du hier?», fragte Alanus.
«Wenn ich die massiven Säulen mitzähle, die Vierung und Chor verbinden, wie ich es auch im Mittelschiff getan habe, so sind es sieben auf jeder Seite.»
«Stimmt», sagte Alanus. «Sieben. Die Zahl der Schöpfung. Die göttliche Zahl. Die Zahl der Vollkommenheit. Die Zahl des neuen Jerusalem, das dereinst erstehen wird. Hier an diesem Ort ist das neue Jerusalem bereits gegenwärtig.»
Alanus blickte Johannes an.
«Verstehst du nun den Sinn der Zahlen?», fragte er.
«Ja. Für den, der sie wirklich versteht, sind sie wie Symbole, wie das Kreuz, die Rose oder der Adler. Aber … was sind dann wir?»
Alanus musste einen Moment
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