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Das Vermächtnis des Templers

Das Vermächtnis des Templers

Titel: Das Vermächtnis des Templers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Andreas Marx
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erlernen, mehrere Ziffern gleichen Wertes in einem Gedankenschritt miteinander zu verbinden.
    So verblüffend die Kunst der Zahlen auch sein mochte, Johannes fragte sich doch bald, ob all dies über die Dokumente des Scriptoriums hinaus auch nur die geringste Bedeutung habe. Mehr und mehr schien ihm diese Kunst als ein Spiel, das zwar einen gewissen Nutzen hatte, ihn aber nach und nach von dem abbrachte, was bislang das Ziel all seiner Erfahrungen und Studien gewesen war. Nachdem er etwa drei Wochen eifrig all die neuen Dinge erlernt hatte, sprach er Alanus darauf an. Dabei gelang es ihm nicht so recht, seine Gedanken klar zu benennen, wohl weil ja auch der Weg, den er bisher gegangen war, keinem eindeutigen Ziel zuzulaufen schien. So erzählte er Alanus von dem, was er bisher erlebt hatte, von der Ahnung, dass dort in ferner Zukunft etwas sein würde, auf das sein Leben zulaufe, und dass er gerade jetzt nicht sicher sei, noch immer auf dem richtigen Weg zu sein, da er Dinge tue, die ihn nicht in die Weite führten, sondern in den engen Kerker der Ziffern, die von Menschen erdacht worden waren, ohne Sinn für die Weite der geistigen Welt.
    Alanus hörte aufmerksam zu, und nachdem Johannes all die scheinbar ungeordneten Gedanken vorgetragen hatte, schwieg er zunächst einen Moment, ging zum Fenster, dachte nach, zögerte und machte dann einen Vorschlag, der Johannes überraschte.
    Am folgenden Tag gingen Alanus und Johannes nach der Terz nicht wie gewohnt zurück zum Ordenshaus, sondern begaben sich zur Kathedrale. Auch heute sah Johannes wie gebannt hinauf zu den Türmen der Westfront, dorthin, wo aus schwindelerregender Höhe Rinder auf die weite Ebene des Landes hinabblickten.
    Alanus hatte das bemerkt.
    «Dieser Anblick wird dir wohl sonst nirgendwo auf der Welt geboten», sagte er.
«Das glaube ich gern», erwiderte Johannes. «Als ich die Rinder dort oben zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Was hat es damit auf sich?»
«Es gibt leider keine Aufzeichnungen, nur eine Sage, die hier in Laon erzählt wird: Beim Transport der riesigen Dachbalken der Kathedrale sollen zwei Ochsen eines Gespannes vor Erschöpfung zusammengebrochen sein. Wie durch ein Wunder seien zwei frische Ochsen erschienen, die sich freiwillig unter das Joch gezwängt und die Arbeit vollendet hätten. Danach wären sie ebenso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen seien. Aus Dankbarkeit hätten die Bürger von Laon diese Ochsen in Stein gemeißelt und ihnen einen Ehrenplatz zugewiesen, hoch oben in luftiger Höhe.»
«Glaubst du diese Legende?»
«Sie klingt sehr wundersam. Aber hättest du eine bessere Erklärung?»
Während Johannes über diese Frage nachdachte, erreichten sie die Portale der Westfront. Dort erblickte er erneut den riesigen Knochen, der auf Höhe des Giebelreliefs über der mittleren Pforte herabhing.
«Was ist das?», fragte er Alanus.
«Der Kieferknochen eines Fisches», antwortete der kurz.
«Das kann ich nicht glauben», entgegnete Johannes. «Wie groß muss dann der Fisch sein?»
«Der Knochen wurde an der Küste gefunden. Die Menschen dort sind Fischer. Sie kennen sich in diesen Dingen aus, und sie sagen, dass es ein Kieferknochen sei.»
Alanus betrat den Innenraum der Kathedrale. Johannes folgte ihm, und von einem Moment auf den anderen war es, als würden ihm mächtige Säulen aus Licht entgegenscheinen.
Es dauerte einen Moment, bis die Sinne der Farbenflut standhalten konnten. Am Vormittag befand sich die Sonne noch im Osten, so dass vor allem der Chorraum und die Vierung hell erleuchtet waren. Die Erbauer der Kathedrale hatten, wo immer es möglich war, auf Mauerwerk verzichtet und große Glasflächen geschaffen. Je nach Stand der Sonne fielen ganze Lichtbündel aus der Höhe in den Raum hinab und durchfluteten große Teile der Kathedrale mit einem flimmernden, sich kontinuierlich wandelnden Gemisch aller Farben.
Auch Alanus war stehen geblieben.
«Was siehst du?», fragte er.
«Ich sehe Licht», antwortete Johannes etwas überrascht von dieser Frage. «Tausende von Farben, die sich stets wandeln.»
«Du siehst mehr als das Licht», sagte Alanus. «Wenn die Strahlen der Sonne mit ihrem Glanz das bunte Glas durchdringen, wem würdest du dann die Farbigkeit der Wand und des Bodens zuschreiben, auf dem du jetzt stehst?»
Johannes bemerkte, dass tatsächlich bunte Lichtfinger unmittelbar vor seinen Füßen zu unerklärlichen Mustern zusammenliefen und sich bald wieder auflösten, um neue

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