Das Vermächtnis des Templers
zurück dachte Johannes über die Kunst der Zahlen nach, die mit der Kunst des Bogenschießens so gar nichts gemeinsam zu haben schien. Im Gegensatz zum Loslassen ging es hier ja gerade um die bewusste, zielgerichtete Inbesitznahme durch den Verstand. Doch war es nicht auch eben jene Kunst des Verstandes gewesen, die er beim Studium der Schriften immer wieder geübt hatte? Auch dort folgte oftmals das eine aus dem anderen, und es gab eine letzte Ebene, die nur mit der Intuition zu erfassen war. So schien es auch mit den Zahlen und ihrer Symbolik zu sein. Je mehr Johannes über all das nachdachte, desto erwartungsvoller sah er dem Vormittag entgegen.
Nach der Terz gingen Johannes und Alanus die wenigen Schritte zum Haus 44, das sich direkt gegenüber dem Ordensgebäude der Templer befand. Ein Mönch in weißer Kutte begrüßte die beiden. Sein Name war Benedictus, und bald stellte sich heraus, dass er Abt eben jenes Klosters war, vor dessen Mauern Johannes am Tag nach seiner Ankunft das Bogenschießen geübt hatte.
«Wir haben Eure Kunst mit großem Interesse beobachtet. Ihr seid ein Meister des Bogens», sagte Benedictus zu Johannes. «Nur war das Interesse meiner Mönche so groß, dass ich etwas Schwierigkeiten hatte, sie wieder zu Stille und Kontemplation zu führen.»
Johannes entschuldigte sich für den Vorfall, doch Benediktus bat ihn, die Sache nicht weiter wichtig zu nehmen.
«Umso mehr freut es mich, Euch helfen zu können, Bögen des Geistes zu spannen», sagte er. «Bruder Anselmus hat mir von Eurem Interesse berichtet. Gern dürft Ihr unsere Bibliothek benutzen. Folgt mir!»
Benedictus führte die beiden Templer in einen großen Raum, in dem viele hundert Bücher gesammelt waren. Regale befanden sich nicht nur an den Wänden, sondern auch inmitten des Raumes, so dass sich die wenigen Lesepulte dem Blick nahezu entzogen. Über eines dieser Pulte war ein Mönch gebeugt, der sich nun den Eintretenden zuwandte und sie begrüßte. Er hieß Jorge und war für die Bibliothek verantwortlich. Benedictus wies ihn an, Johannes künftig bei seinen Studien zu unterstützen und ihn in die Systematik der Bibliothek einzuführen.
Von nun an verbrachte Johannes fast jeden Tag einige Zeit bei den Augustinern. Jorge erwies sich als sehr belesener Mann, der die Bücher ebenso wertschätzte wie der junge Templer, und so kam es, dass er Johannes nicht nur Zugang zu den Schriften verschaffte, sondern gemeinsam mit ihm den Besonderheiten der Symbolik und der Architektur nachging.
Zum großen Erstaunen Jorges fanden sie keinerlei Unterlagen über den Bau der großen Kathedrale von Laon, wohl aber einen Bericht des Abtes Suger, der einst für den Bau der Abteikirche von Saint-Denis verantwortlich gewesen war. Suger sprach von seiner Kirche als dem geistigen Bauwerk, das von den lebendigen Steinen, den Gläubigen, erbaut worden sei. Als eine Steigerung des Bundeszeltes Moses’ und des Salomonischen Tempels sollte Saint-Denis auf das Himmlische Jerusalem verweisen und den Seelen für den Aufstieg aus der materiellen Welt in die geistige Welt eine angemessene Stätte der Übung geben. Erst wenn der Mensch sich Gott zuwende, bekomme sein eigener Name Bedeutung. Und so würde die Kathedrale zum irdischen Abbild des Himmlischen Jerusalem. «Wer du auch bist, der du die Herrlichkeit dieses Gebäudes rühmen willst», las Johannes bei Suger, «nicht das Gold und die Kosten bewundere, sondern die Leistung dieses Werkes! Edel erstrahlt das Werk, doch das Werk, das edel erstrahlt, soll die Herzen erhellen, so dass sie durch wahre Lichter zu dem wahren Licht gelangen, wo Christus die wahre Tür ist. Der schwerfällige Geist erhebt sich mit Hilfe des Materiellen zum Wahren, und obwohl er zuvor niedergesunken war, ersteht er neu, wenn er dieses Licht erblickt hat.»
Fast schien es Johannes, als habe er in diesen Sätzen das Geheimnis der Kathedrale bereits gefunden. Ihre Bedeutung war von Suger sehr treffend beschrieben worden. Allerdings ging er mit keinem Wort auf architektonische Besonderheiten, versteckte Symbolik und die Harmonie der Zahlen ein. Mehrere Tage suchte Johannes gemeinsam mit Jorge nach einer Schrift, die hier Aufschluss hätte geben können, doch erfolglos. Immerhin fiel ihnen ein Musterbuch in die Hände, das von einem Werkmeister mit Namen Villard de Honnecourt verfasst worden war. Er schien verschiedene Kathedralen genau gekannt zu haben und hatte alle wichtigen Bauformen abgezeichnet und gesammelt. Mehrere Tage
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