Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
ich habe mich so geschämt.«
Emma stand mit gesenktem Kopf da. Ich ging zu ihr, nahm ihre Hand und drückte sie fest.
»Du musst dich nicht schämen«, sagte ich. »Wir sind Kinder und wir waren beide schwer krank. Was hätten wir denn tun können?«
Eine einzelne Träne lief über Emmas Wange.
»Du verstehst das nicht. Für mich ist alles viel schlimmer wegen meinem Vater …«
Sie sah mich trotzig an.
»Als ich klein war, haben die Leute aus meinem Dorf meinen Vater umgebracht. Sie haben ihm vorgeworfen, er sei ein Gestaltenwandler. Mein Leben lang habe ich jeden verprügelt, der diese Lüge nachgeplappert hat. Mit den Fäusten bin ich auf solche Leute los …«
Emma schlug ihre Fäuste zusammen.
»Aber jetzt muss ich annehmen, dass es vielleicht doch wahr ist. Vielleicht bin ich ja hier, weil mein Vater tatsächlich ein Gestaltenwandler war.«
Emma atmete hörbar ein. Sie griff unter die Decke auf ihrem Bett und zog ein hübsches Tuch hervor. Ich erkannte, dass es das Tuch war, das sie von Professor Elkkin bekommen hatte. Sie schlang es wie einen Schal um ihren Hals. Wunderschöne blaue Kreise waren in den Stoff gewebt und sie sahen tatsächlich aus wie Augen. Emma tupfte sich mit dem Schal unauffällig die Tränen ab.
Für mich gab es keine Tränen zu vergießen. Emma gegenüber hätte ich es nicht zugegeben, aber ich war trotz alledem glücklicher, hier unter dem Eis zu sein als zu Hause in meinem Rollstuhl. Ich konnte laufen und sprechen und, wenn es nötig war, auch kämpfen. Ich ließ Emmas Hand los und beschloss, sie aufzuheitern.
»Hast du Doktor Felman wirklich eins auf die Nase gegeben?«, fragte ich. Sie nickte und schließlich lachte sie sogar.
»Er hat gesagt, er könne verstehen, wie mir zumute sei. Aber ich habe ihm nicht geglaubt. Also, peng.«
Ich warf einen Blick zur geschlossenen Tür und lachte auch.
»Emma, wir sind jetzt zu zweit«, sagte ich. »Also doppelt so stark. Komm, wir wollen runtergehen und ein paar vernünftige Fragen stellen.«
9. Kapitel
A ls wir nach unten kamen, war eine alte Frau bei Doktor Felman, die er uns als Professor Elkkin vorstellte. Emma warf ihr einen schüchternen Blick zu und grüßte sie mit einem Kopfnicken. Egil war verschwunden.
Professor Elkkin sah aus, als wäre sie alt wie ein Berg und zäh wie Walrosshaut, aber ihre Augen waren die eines kleinen Mädchens. Sie funkelten blau, und wenn Professor Elkkin sprach, schossen ihre Blicke hierhin und dorthin, als folgten sie dem Flug unsichtbarer Kolibris.
»Ah, Kinder«, sagte sie und zog an ihrer Pfeife. »Habt ihr euch schon ein bisschen angefreundet?«
»Wir haben uns gegenseitig unsere Geschichten erzählt, wenn Sie das meinen«, sagte ich, und mein Ton veranlasste den Doktor und Professor Elkkin, einen Blick zu wechseln. Sie machten sich anscheinend auf ein schwieriges Gespräch gefasst.
»Ihr müsst viele Fragen haben«, sagte Professor Elkkin, und der Doktor bedeutete uns, auf den zwei leeren Stühlen vor dem Feuer Platz zu nehmen.
Emma und ich sahen einander an. Jetzt, wo unser Augenblick gekommen war, wusste keiner von uns, wer zuerst reden sollte. Meine erste Frage war eigentlich ziemlich belanglos, aber sie plagte mich schon, seit ich Emma kennengelernt hatte.
»Wie kommt es, dass wir uns alle verstehen?«, fragte ich. »Emma kann kein Englisch, und auch ich kann ihre Sprache nicht, trotzdem können wir uns unterhalten. Ich empfinde es so, als ob alle hier Englisch mit mir sprechen, Emma dagegen meint, Sie und die anderen sprechen ihre Sprache …«
»Jawohl, Sie sprechen Dinka «, sagte Emma entschieden.
Den Doktor schien die Frage zu freuen. Er blies sich mächtig auf und schaute zur Decke, eine Geste, mit der er Professor Elkkin offenbar zu verstehen geben wollte, dass diese Frage in sein Gebiet falle.
»Ein sehr interessanter Punkt«, sagte er und verschränkte die Finger. »Die Wahrheit ist, keiner von uns hier spricht irgendeine Sprache. Wir alle sprechen die Sprache der Fel.«
»Nein, Dinka«, beharrte Emma. Doktor Felman sah sie kurz an, dann fuhr er fort.
»Die Fel-Sprache ist … mehr als eine Sprache. Ihr werdet bald lernen, dass sämtliche Fel-Künste im Prinzip mit Namen zu tun haben. Das heißt, die Trennung von äußeren Erscheinungen als schlichte Wesen durch die Verwendung von Symbolen, in diesem Fall also Wörtern …«
Emma und ich tauschten einen Blick, und ich sah ihr an, dass auch sie keine Ahnung hatte, wovon der Doktor sprach. Er machte ein etwas
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