Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
endloses Weiß.
DRITTER TEIL
FREIHEIT
19. Kapitel
W ie kann ein winziger Vogel, den man in eine Streichholzschachtel stecken könnte, die weite Strecke von Europa nach Afrika fliegen?
Es ist unbegreiflich, und doch findet dieser Flug jedes Jahr statt. Hunderttausende Schwalben fliegen im Herbst nach Afrika und im Frühjahr denselben Weg zurück nach Nordeuropa. Und nicht nur das, sie finden auch immer haargenau zu der Stelle, an der sie im Jahr zuvor ihr Nest gebaut haben.
Kaum hatten wir uns aus dem Minenschacht in die Luft geschwungen, waren meine Menschengedanken zum größten Teil wie ausgeknipst. Dafür wusste ich, wo Süden war, ich hatte ein Empfinden für Kälte, und merkwürdigerweise kannte ich Emma. Unter unseren Schwanzfedern blies ein kräftiger kalter Wind und auf dem ersten Abschnitt unserer Reise glitten wir wie im Rausch auf diesem Luftstrom dahin. Nach einer Weile ließen wir uns ein wenig sinken, um nun einen östlichen Wind, einen wärmeren als den südlichen, zu nutzen. Es war so ähnlich wie das Umsteigen von einem Zug in den anderen.
Irgendwann sah ich unter mir Sterne, nur dass diese Sterne gelb und rot waren. Ich begriff, dass es sich um die Lichter einer Stadt der Menschen handelte. Carlisle wahrscheinlich oder vielleicht Barrow-in-Furness. Es war anstrengender, über Land zu fliegen als über Meer, weil der Wind nicht so kräftig ging, dafür war es hier wärmer und es gab mehr zu sehen. Auf unserem Flug nach Süden kamen wir über Manchester und Birmingham.
Ich zwitscherte und piepte mir fast das Herz aus dem Leib: Ich wollte Emma so gern klarmachen, dass wir gerade über London flogen und dass eins der hellen Pünktchen in diesem endlosen Lichtermeer das Licht aus meinem Zimmerfenster im Kloster war.
Ich spürte, dass Emma gespannt darauf war zu sehen, wo ich früher gewohnt hatte. Wir verlangsamten unser Tempo etwas, um die von der großen Stadt aufsteigende warme Luft zu genießen, auch wenn sie nach Schwefel, Autoabgasen und ekligem brennendem Zeug stank. Es war ein großartiger Blick und ich war stolz darauf. Mir fiel plötzlich ein kleines Lied ein, das Schwester Mary immer gesungen hatte, und ich begann es in Gedanken vor mich hin zu singen.
O Mary, o Mary, was ist London so schön,
wo die Menschen Tag und Nacht ihrer Arbeit nachgehn.
Sie säen kein Getreide, kein Erntewagen rollt,
zuhauf suchen sie auf der Straße nach Gold!
Und als ich sie fragte: Wie findet man Gold?
Lernte ich tun, was ich nie tun wollt’.
Denn was ich dort fand, macht das Herze mir schwer.
Ach, wär ich geblieben in den Bergen am Meer!
Dieses Lied hat Schwester Mary immer mit so viel Inbrunst gesungen, dass es ihr manchmal die Tränen in die Augen trieb. Ich weiß nicht, warum. In den Bergen am Meer sei sie noch nie gewesen, hat sie gesagt. Und ganz sicher ist sie nicht nach London gekommen, um nach Gold zu suchen. Wonach mag sie wohl gesucht haben?
Nachts, während wir das Mittelmeer überquerten, sah ich viele Schiffe. Es waren kleine verschlungene Lichtbündel in der Dunkelheit, und ich stellte fest, dass mich bei dem Anblick von Schiffen auf See ein Gefühl von Einsamkeit überkam. Inzwischen war es so warm geworden, dass ich mich nach Wasser sehnte – und wie als Antwort darauf gerieten wir in einen starken Regen.
Der Spaß, den es macht, durch Regen zu fliegen, lässt sich kaum beschreiben. Ein kleines eiskaltes Prickeln überall am Körper und immer wieder ein Schnabel voll kühles, frisches Wasser auf der Zunge. Ich tauchte vor Vergnügen zwischen den Regentropfen hindurch, wich ihnen aus, ließ mich in kleinen Abwärtsbögen fallen. Emma tat es mir nach. Es war der anbrechende Morgen des zweiten Tages, und eigentlich hätten wir völlig erschöpft sein müssen, aber der Regen machte uns wieder putzmunter wie spielende Kinder. Die blutrote Sonne ging hier schneller auf und wärmte schneller und aus der Ferne roch es nach Rauch.
Brennendes Öl. Brennende Autoreifen. Gefahr vielleicht.
Als der Regen aufhörte und die Wolken sich allmählich verzogen, sah ich unter uns eine ganz andere Art von Meer. Ein Meer aus Sand.
Eine endlose Wüste erstreckte sich in alle Richtungen bis zum Horizont und die Luft war voller Sandkörnchen. Die feinen Körnchen prasselten mir beim Fliegen ins Gesicht und ich kniff die Augen zusammen.
Irgendwann hörte ich über unseren Köpfen ein tiefes grollendes Geräusch, das ich für Donnern hielt. Als ich aber aufschaute, sah ich eine Kondensspur: Ein
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