Das Vermächtnis von Erdsee
Dach der Bäume sitzend, sah sie darin eine Ansammlung von Steinmauern, die eine Art von Wesen einschloss und alle anderen draußen hielt, wie ein Pferch, ein Käfig. Wie konnte irgendeiner von ihnen an einem solchen Ort sein Gleichgewicht wahren?
Der Formgeber ordnete vier Kiesel im Sand zu einem Halbrund an und sagte: »Ich wollte, Sperber wäre nicht fortgegangen. Ich wünschte, ich könnte lesen, was die Schatten schreiben. Doch alles, was ich höre, sind die Blätter, die sagen: Veränderung, Veränderung... alles wird sich verändern außer ihnen.« Er schaute wieder mit diesem sehnsüchtigen Blick hinauf in die Bäume. Die Sonne ging unter; er stand auf, wünschte ihr sehr freundlich eine gute Nacht und ging davon, verschwand unter den Bäumen.
Sie saß noch eine Weile am Thwilbach. Sie war beunruhigt von dem, was er ihr erzählt hatte, und von ihren
Gedanken und Gefühlen im Hain, und war beunruhigt, weil irgendwelche Gedanken oder Gefühle dort hatten Unruhe über sie bringen können. Sie ging ins Haus, holte ihr Essen, bestehend aus Räucherfleisch, Brot und Salat, und verzehrte es achtlos. Rastlos ging sie wieder zum Bachufer zurück. Es war sehr still und warm im späten Abenddunst, nur die größten Sterne leuchteten durch eine milchige Wolkenschicht. Sie streifte ihre Sandalen ab und steckte die Füße ins Wasser. Es war kühl, mit sonnenwarmen Strömungen. Sie schlüpfte aus den Kleidern - den Männerhosen und dem Hemd -, die alles waren, was sie besaß, und glitt nackt ins Wasser, fühlte die Strömung und die Strudel am ganzen Körper. In Iria hatte sie nie in den Flüssen geschwommen und die kalten, grauen Wogen des Meeres hatte sie immer gehasst, aber dieses rasch dahinströmende Wasser hier gefiel ihr an diesem Abend. Sie ließ sich treiben und glitt durchs Wasser, ihre Hände streiften seidig glatte Felsen und ihre eigenen seidig glatten Hüften, ihre Füße bewegten sich zwischen Algen hindurch. Das strömende Wasser wusch alle Sorgen und alle Unruhe von ihr ab; entzückt ließ sie sich von der sachten Strömung des Wassers tragen und blickte hinauf ins sanfte weiße Feuer der Sterne.
Ein Schauer durchlief sie. Das Wasser war kalt. Sie riss sich zusammen - die Glieder waren noch weich und gelöst schaute zur Uferböschung hinauf und erblickte die schwarze Gestalt eines Mannes.
Sie erhob sich.
»Weg da!«, schrie sie. »Weg da, du Verräter, du verdorbener Lüstling, oder ich schneide dir die Leber raus!« Sie stolperte die Böschung hinauf, wobei sie sich an den Grasbüscheln festhielt. Da war niemand. Wutentbrannt stand sie da, bebend vor Zorn. Sie sprang die Böschung wieder hinunter, fand ihre Kleider und zog sie an, fluchend: »Du feiger Zauberer. Du verräterischer Hurensohn.«
»Irian?«
»Er war hier«, schrie sie. »Dieses verdorbene Herz, dieser Thorion!« Sie lief dem Formgeber entgegen, als er ins Sternenlicht beim Haus trat. »Ich habe im Fluss gebadet und er stand da und hat mich beobachtet!«
»Ein Geistbote, nur eine Erscheinung von ihm. Er konnte dir nichts tun, Irian.«
»Ein Geistbote mit Augen, eine Erscheinung, die sehen kann! Vielleicht hat er...« Sie verstummte, weil ihr mit einem Mal die Worte fehlten. Ihr war übel. Sie schauderte und schluckte den kalten Speichel hinunter, der ihr im Mund zusammenlief.
Der Formgeber kam näher und nahm ihre Hände in die seinen. Seine Hände waren warm, und sie fühlte sich so tödlich kalt, dass sie sich dicht an ihn drängte auf der Suche nach seiner Körperwärme. So standen sie eine Weile da, ihr Gesicht zwar von ihm abgewandt, aber ihre Hände ineinander verschränkt und ihre Körper dicht aneinander geschmiegt. Schließlich machte sie sich los, streckte sich und warf die Strähnen ihres nassen Haars zurück. »Danke, mir war so kalt.«
»Ich weiß.«
»Mir ist nie kalt«, sagte sie. »Das war er.«
»Glaube mir, Irian, er kann nicht hierher kommen, er kann dir keinen Schaden zufügen... hier.«
»Er kann mir nirg endwo Schaden zufügen«, entgeg nete sie und das Feuer war in ihren Körper zurückgekehrt. »Wenn er es versucht, vernichte ich ihn.«
»Ah«, meinte der Formgeber.
Sie betrachtete ihn im Sternenlicht und bat: »Sagt mir Euren Namen, nicht den wahren Namen, nur wie ich Euch nennen kann, wenn ich an Euch denke.«
Eine Minute lang stand er schweigend da, dann antwortete er: »In Karego-At, als Barbar, war ich Azver. Auf Hardisch heißt das Kriegsbanner.«
»Danke«, sagte sie.
Sie lag wach in dem
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