Das Vermächtnis von Erdsee
er.
»Flöte spielen«, sagte Diamant prompt und zog die Querflöte aus der Tasche, die seine Mutter ihm zum zwölften Geburtstag geschenkt hatte. Er setzte sie an die Lippen, seine Finger glitten darüber hinweg und er spielte eine süße, vertraute Melodie von der Westküste, >Wohin meine Liebe geht<.
»Sehr hübsch«, sagte der Vater. »Aber Flöte spielen kann jeder, weißt du.«
Diamant sah Rose an. Das Mädchen wandte den Kopf ab, schaute zu Boden.
»Ich habe es wirklich schnell gelernt«, sagte Diamant.
Golden brummte etwas, unbeeindruckt.
»Ich kann sie von selbst spielen lassen«, beharrte Diamant und hielt die Flöte von den Lippen weg. Seine Finger tanzten über die Klappen und die Flöte spielte eine kurze Melodie. Etliche Töne waren falsch und zum Schluss, bei der letzten Note, kreischte sie schrill auf. »Ich kann es noch nicht richtig«, sagte Diamant beschämt.
»Nicht schlecht, nicht schlecht«, meinte sein Vater. »Übe nur weiter.« Und mit den Worten ging er. Er war nicht sicher, was er hätte sagen sollen. Er wollte den Jungen nicht ermutigen, mehr Zeit mit der Musik oder mit diesem Mädchen zu verbringen; das tat er ohnehin schon zur Genüge, und keins von beiden würde ihm helfen, irgendetwas in seinem Leben zu erreichen. Aber diese Gabe, diese unleugbare Gabe - der schwebende Stein und die von selbst spielende Flöte... Nun, bestimmt wäre es falsch, zu großes Aufhebens davon zu machen, aber ganz gewiss durfte man ihn auch nicht entmutigen.
Goldens Ansicht nach war Geld eine Macht, aber nicht die einzige. Es gab zwei weitere Mächte, eine gleich groß, die andere überlegen. Es gab die Geburt. Wenn der Herr des Westlands auf seine Ländereien bei Lichting kam, war Golden glücklich, sich als treuer Lehnsmann zu erweisen. Der Herr war dazu geboren, zu regieren und den Frieden zu wahren, wie Golden dazu geboren war, Handel zu treiben und Reichtum zu erwerben; ein jeder an seinem Platz. Und jeder, ob adelig oder gemein, hatte, wenn er seinen Dienst gut versah, Respekt und Ehre verdient. Doch da waren auch geringere Herren, die Golden kaufen oder verkaufen konnte, denen er etwas borgen oder die er betteln lassen konnte, Männer von adeliger Herkunft, die aber weder Gefolgstreue noch Ehre verdienten. Die Macht der Geburt und die Macht des Geldes fallen einem zu, dann aber wollen sie verdient sein, sonst gehen sie verloren.
Doch abgesehen von den Reichen und Adligen gab es da noch jene, die Männer der Macht genannt wurden: die Magier. Ihre Macht war, obwohl selten ausgeübt, absolut. In ihren Händen lag das Geschick des Archipels, eines Königreichs, das schon lange ohne König war.
Wenn Diamant zu dieser Art von Macht geboren war, wenn das seine Gabe war, dann verblassten alle Träume, die Golden gehegt hatte: ihn ins Geschäft einzuführen und ihm dabei zu helfen, die Transportwege zu einem regulären Handel mit Südhafen auszubauen und den Kastanienwald oberhalb von Reche zu kaufen - all diese Pläne wurden völlig unerheblich. Würde Diamant auf die Magierschule auf der Insel Rok gehen können, wie der Onkel seiner Mutter es getan hatte? Würde er, wie sein Onkel, seiner Familie Ruhm bringen und Macht über Herren und Gemeine erwerben, indem er Magier am Hof des Regenten in Havnor-Großhafen wurde? Alles andere als schwebend stieg Golden die Treppen hinauf, bestürzt von diesen Visionen.
Aber er sagte nichts zu dem Jungen und nichts zur Mutter des Jungen. Er war ein gewissenhafter und wortkarger Mann, misstrauisch gegenüber Visionen, solange sie sich nicht in Taten umsetzen ließen; und obzwar Tuly eine pflichtbewusste und liebende Gattin, Mutter und Hausfrau war, machte sie ohnedies schon zu viel Aufhebens von Diamants Begabungen und Vorzügen. Außerdem neigte sie wie alle Frauen zu Klatsch und Tratsch und war wahllos in ihren Freundschaften. Das Mädchen Rose hatte mit Diamant Umgang, weil Tuly Roses Mutter, die Hexe, zu sich einlud und sie jedes Mal zu Rate zog, wenn Diamant einen Niednagel hatte; sie erzählte ihr mehr, als irgendwer über Goldens Hauswesen wissen sollte. Seine Geschäfte hatten nichts mit denen der Hexe gemein. Andererseits würde Farwerran ihm sagen können, ob sein Sohn tatsächlich Anlagen, ob er eine Begabung für die Zauberei hatte... doch er schreckte vor dem Gedanken zurück, sie zu fragen, eine Hexe für was auch immer zu Rate zu ziehen, und schon gar, sie um ein Urteil über seinen Sohn zu bitten.
Er beschloss, abzuwarten und zu beobachten. Als
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