Das Vermächtnis von Erdsee
eine halbe Oktave höher.
»Wenn du willst.«
»Ich... ich habe noch nie daran gedacht. Kann ich mir das überlegen? Eine Weile - einen Tag lang?«
»Natürlich«, sagte Golden, erfreut über die Umsicht seines Sohnes. Er hatte gedacht, Diamant werde sich auf das Angebot stürzen, was wohl nur natürlich, aber auch schmerzlich für den Vater gewesen wäre - die Eule, die womöglich einen Adler ausgebrütet hatte.
Denn Golden begegnete der Kunst der Magie mit echter Demut, er betrachtete sie als etwas, was weit über ihn hinausging - kein bloßes Spielzeug wie Musik oder Geschichtenerzählen, sondern ein praktisches Handwerk, an das sein eigenes Handwerk niemals heranreichte. Und auch wenn er es nicht so ausgedrückt hätte, er hatte Angst vor Magiern. Den Hexenmeistern mit ihren Taschenspielertricks und Täuschungen und ihrem ganzen Hokuspokus begegnete er eher herablassend, doch vor den wirklichen Magiern hatte er Angst.
»Weiß Mutter davon?«, fragte Diamant.
»Wenn die Zeit reif ist, wird sie es erfahren. Aber sie hat bei deiner Entscheidung keine Rolle zu spielen. Frauen wissen nichts von diesen Dingen und haben nichts damit zu schaffen. Du musst deine Entscheidung alleine fällen, als Mann. Verstehst du das?« Golden war ernst; das war die Gelegenheit, den Jungen von seiner Mutter zu entwöhnen. Sie als Frau würde sich an ihn klammern, aber er als Mann musste lernen zu gehen. Und Diamant nickte tapfer genug, um seinen Vater zufrieden zu stellen, obwohl er nachdenklich dreinblickte.
»Meister Hemlock hat gesagt, ich... hat gesagt, dass ich eine... eine Begabung haben könnte, ein Talent für...«
Golden versicherte ihm, dass der Zauberer das wirklich so gesagt hatte, obwohl man erst noch sehen müsse, um welche Art von Begabung es sich handelte. Die Bescheidenheit des Jungen bedeutete eine große Erleichterung für ihn. Unbewusst hatte er gefürchtet, Diamant würde sich über ihn erheben und seine Macht sofort ausspielen - diese geheimnisvolle, gefährliche, unberechenbare Macht, der gegenüber Goldens Reichtum, sein Geschick und seine Würde zur Ohnmacht herabsanken.
»Danke, Vater«, sagte der Junge. Golden umarmte ihn und ging, hocherfreut über ihn, hinaus.
Ihr Treffpunkt lag im Weidendickicht unten an der Amia, wo sie an der Schmiede vorbeifloss. Sobald Rose eintraf, verkündete Diamant: »Er will, dass ich bei Meister Hemlock in die Lehre gehe! Was soll ich tun?«
»Bei dem Zauberer lernen?«
»Er meint, ich hätte diese große Begabung. Für Magie.«
»Wer meint das?«
»Vater. Er hat was von den Tricks gesehen, die wir ausprobiert haben. Hemlock meint wohl, ich solle zu ihm in die Lehre kommen, weil es sonst gefährlich werden könnte. O je«, Diamant schlug sich mit den Händen an den Kopf.
»Aber du hast die Begabung.«
Er stöhnte und bearbeitete seinen Kopf mit den Knöcheln. Er saß am Boden an der Stelle, wo sie früher gespielt hatten, eine Art von Laube tief in den Weiden, wo sie den Fluss in der Nähe über Steine plätschern hören konnten und die Hammerschläge des Schmieds etwas weiter in der Feme. Das Mädchen setzte sich und sah ihn an.
»Schau doch nur, was du alles kannst«, sagte sie. »Nichts davon würde dir gelingen, wenn du keine Begabung hättest.«
»Eine kleine Begabung«, sagte Diamant undeutlich. »Gerade mal genug für Zaubertricks.«
»Woher willst du das wissen?«
Rose war sehr dunkelhäutig, das krause Haar stand ihr in einer Wolke um den Kopf, ein schmaler Mund und ein aufmerksames, ernstes Gesicht. Ihre Füße, Beine und Hände waren nackt und voller Dreck, ihr Rock und ihre Jacke unansehnlich. Ihre schmutzigen Zehen und Finger waren schmal und feingliedrig und unter ihrer abgetragenen, knöpf losen Jacke leuchtete eine Halskette aus Amethysten hervor. Ihre Mutter Farwerran hatte durch Heilen und Gesundsprechen, Weissagen und als Geburtshelferin, durch den Verkauf von Findezaubem, Liebeselixieren und Schlaftrunks ein gutes Auskommen. Sie hätte es sich leisten können, sich und ihre Tochter ordentlich zu kleiden, Schuhe zu kaufen und alles sauber zu halten, aber es kam ihr nicht in den Sinn, das zu tun. Haushaltsführung kümmerte sie nämlich nicht im Geringsten. Sie und Rose lebten hauptsächlich von gekochtem Huhn und gebratenen Eiern, da sie oft mit Geflügel bezahlt wurde. Der Hof ihres zweizimmrigen Hauses war eine Wildnis mit Katzen und Hühnern. Sie liebte Katzen, Kröten und Juwelen. Die Amethyst-Halskette war der Lohn von einem von
Weitere Kostenlose Bücher