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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Sie erlebten, wie die Regel von Rok aufgestellt wurde, die freilich nie so unumstößlich war, wie es ihr Wunsch gewesen wäre, immer wieder angefochten. Denn Magier kamen von anderen Inseln oder wuchsen unter den Schülern der Schule heran, Frauen und Männer der Macht, voller Wissen und Stolz, von der Regel durch Eid zum Zusammenwirken zum allgemeinen Wohl verpflichtet, doch jeder von ihnen sah einen anderen Weg, wie das zu erreichen sei.
    Im Alter wurde Elehal der Auseinandersetzungen und Streitereien um die Schule müde und zog sich immer mehr unter ihre Bäume zurück, wohin sie allein ging, so weit der Geist gehen kann. Medra ging ebenfalls dorthin, aber nicht so weit wie sie, weil er lahm war.
    Als sie starb, lebte er eine Weile allein in dem kleinen Haus am Hain.
    Eines Tages im Herbst kehrte er in die Schule zurück. Er kam durch die Hintertür. Diese öffnet sich zu den Feldern, die sich hinauf bis zum Rokkogel ziehen. Durch die Hallen und steinernen Korridore kam er zur innersten Stelle, in den marmorgefliesten Brunnenhof, wo der Baum, den Elehal gepflanzt hatte, jetzt groß war und rote Beeren trug.
    Als sie hörten, dass er da war, kamen die Lehrer von Rok alle herbei, Männer wie Frauen, alle Meister ihrer Künste. Medra war der Finder gewesen, bis er in den Hain gegangen war. Jetzt unterrichtete eine junge Frau diese Kunst, wie er es sie gelehrt hatte.
    »Ich habe darüber nachgedacht«, sagte er. »Jetzt seid ihr acht. Neun ist eine bessere Zahl. Nehmt mich wieder unter die Meister auf, wenn ihr wollt.«
    »Was willst du tun, Meister Seeschwalbe?«, fragte der Gebieter, ein grauhaariger Magier aus Ilien.
    »Der Türhüter sein«, sagte Medra. »Da ich lahm bin, brauche ich nicht weit zu gehen. Da ich alt bin, weiß ich, was ich denen zu sagen habe, die kommen. Da ich ein
    Finder bin, werde ich herausfinden, ob sie hierher gehören.«
    »Das würde uns viel Ärger und einige Gefahren ersparen«, meinte die junge Finderin.
    »Wie willst du das anstellen?«, fragte der Gebieter.
    »Ich werde sie nach ihrem Namen fragen«, sagte Medra. Er lächelte. »Wenn sie ihn mir sagen, dürfen sie herein. Und wenn sie glauben, sie hätten alles gelernt, dürfen sie wieder hinaus. Wenn sie mir meinen Namen nennen können.«
    So geschah es. Für den Rest seines Lebens hütete Medra die Tore des Großhauses von Rok. Die Hintertür, die zum Rokkogel ging, wurde lange Medras Tor genannt. Auch als sich im Lauf der Jahrhunderte vieles geändert hatte in dem Haus. Und noch heute ist der neunte Meister von Rok der Türhüter.
    In Endweg und in den Dörfern am Fuße des Onn-Berges auf Havnor singen die Frauen beim Spinnen und Weben ein Lied, dessen letzter Vers vielleicht auf den Mann anspielt, der Medra war und Otter und Seeschwalbe:
     
    Drei Dinge hat's gegeben und gibt's nicht mehr:
    Soleas schimmernde Insel in der See,
    ein Drache, der schwimmt im Meer,
    ein Seevogel, der fliegt durchs Grab.

Schattenrose und D iamant
     
    Ein Seemannslied aus West-Havnor
     
    Wohin mein Liebster geht,
    Dorthin gehe ich auch.
    Wohin sein Boot steuert,
    Dorthin steuere ich auch.
     
    Wir werden zusammen lachen,
    Zusammen werden wir weinen.
    Wenn er lebt, lebe ich auch,
    Wenn er stirbt, sterbe ich auch.
     
    Wohin mein Liebster geht,
    Dorthin gehe ich auch.
    Wohin sein Boot steuert,
    Dorthin steuere ich auch.
     
    Im Westen von Havnor, umgeben von Hügeln voller Eichen-und Kastanienwälder, liegt die Stadt Lichting. Vor einiger Zeit war ein Händler namens Golden der reichste Mann der Stadt. Golden gehörte die Mühle, wo man die Eichenbohlen für die Schiffe Zuschnitt, die in Havnor-Hafen und in Havnor-Großhafen gebaut wurden; ihm gehörten die größten Kastanienwälder; ihm gehörten die Wagen, und er stellte die Fuhrleute an, die das Holz und die Kastanien zum Verkauf über die Hügel brachten. Er verdiente sehr gut mit den Bäumen, und als sein Sohn zur Welt kam, sagte die Mutter: »Wir sollten ihn Kastanie nennen... oder vielleicht Eiche?« Aber der Vater sagte: »Diamant«, da seiner Ansicht nach nur Diamanten kostbarer waren als Gold.
    So wuchs der kleine Diamant im vornehmsten Haus von Lichting auf, ein dickes Kind mit leuchtenden Augen, ein rotbäckiger, fröhlicher Knabe. Er hatte eine schöne Singstimme, ein gutes Gehör und liebte die Musik, sodass seine Mutter Tuly ihn neben anderen Kosenamen Singspatz und Feldlerche nannte, zumal ihr >Diamant< eigentlich nie recht gefallen hatte. Er trällerte und jubilierte durchs Haus;

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