Das Vermächtnis von Erdsee
jede Melodie, die er hörte, konnte er auf der Stelle auswendig, und wenn er keine hörte, so erfand er eine. Seine Mutter hatte eine weise Frau zu sich bestellt, Farwerran, die ihm Die Erschaffung Eas und Die Heldentaten des Jungen Königs beibringen sollte, und als er elf Jahre alt war, sang er zur Wintersonnenwende für den Herrn des Westlandes das Winterlied, als dieser auf seinen Gütern in den Hügeln oberhalb von Lichting weilte. Der Herr und seine Gattin lobten den Gesang des Jungen und überreichten ihm eine kleine goldene Schatulle mit einem in den Deckel eingelassenen Diamanten, was Diamant und seiner Mutter als eine freundliche Geste und ein schönes Geschenk erschien. Doch Golden war etwas ungehalten über das Singen und die Schatulle. »Es gibt Wichtigeres für dich zu tun, mein Sohn«, sagte er. »Und größere Preise zu gewinnen.«
Diamant dachte, sein Vater meine das Geschäft - Holzfäller und Sägewerker, die Sägemühle, die Kastanienwälder, Pflücker, Fuhrleute, die Wagen -, all die Arbeit, das Reden und Planen, wichtige Angelegenheiten für Erwachsene. Er hatte nie das Gefühl, dass dies viel mit ihm zu tun hatte; wie sollte es da so wichtig für ihn sein, wie sein Vater es erwartete? Vielleicht würde er es herausfinden, wenn er größer war.
Doch in Wirklichkeit dachte Golden nicht nur ans Geschäft. Er hatte seinen Sohn zuweilen beobachtet; wenngleich die Ergebnisse seiner Beobachtungen ihn nicht wirklich von seinen Geschäften abzulenken vermochten, so sorgten sie dennoch dafür, dass er von Zeit zu Zeit einen Blick hinauswarf, nur um die Augen sogleich wieder zu verschließen.
Zuerst hatte er gedacht, Diamant habe eine Begabung, wie viele Kinder sie haben und dann verlieren, einen Anflug von magischen Fähigkeiten. Als kleiner Junge war Golden selbst imstande gewesen, den eigenen Schatten zum Leuchten und Funkeln zu bringen. Seine Familie hatte ihn für den Trick gelobt und ihn den Gästen vorführen lassen; als er sieben oder acht war, hatte sich das für immer verloren.
Als er Diamant die Treppe herunterkommen sah, ohne dass er die Stufen berührte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen; doch ein paar Tage später sah er den Jungen die Treppe hinaufschweben, nur ein Finger glitt an dem Eichengeländer entlang. »Kannst du auch so herunterkommen?«, fragte Golden und Diamant sagte: »O ja, so...« und schwebte wieder herunter, leicht wie eine Wolke im Südwind.
»Wie hast du das gelernt?«
»Ich habe es irgendwie herausgefunden«, antwortete der Junge, spürbar verunsichert, ob der Vater das auch billigte.
Golden lobte den Jungen nicht, er wollte nicht, dass er eitel wurde oder sich etwas einbildete auf eine Begabung, die nur vorübergehend sein mochte, wie seine helle Knabenstimme. Davon wurde ohnehin schon genug Aufhebens gemacht.
Doch etwa ein Jahr später sah er Diamant im Garten hinter dem Haus mit seiner Spielkameradin Rose. Die Kinder saßen einander gegenüber in der Hocke, die Köpfe eng zusammengesteckt, und lachten. Etwas Eindringliches, gar Unheimliches war um sie und ließ ihn am Fenster auf dem Treppenabsatz Halt machen und sie beobachten. Etwas zwischen ihnen sprang auf und ab... ein Frosch? Eine Kröte? Eine große Grille? Er ging in den Garten hinaus und trat dicht an sie heran, und obgleich er von kräftiger Statur war, bewegte er sich so leise, dass sie ihn, versunken wie sie waren, nicht hörten. Was da zwischen ihren nackten Zehen auf und ab hüpfte, war ein Stein. Wenn Diamant die Hand hob, sprang der Stein in die Höhe, wenn er die Hand schüttelte, schwebte der Stein in der Luft, und wenn er mit den Fingern abwärts schnippte, fiel er zu Boden.
»Jetzt du«, sagte Diamant zu Rose, und sie machte dieselben Bewegungen wie er, aber der Stein ruckte nur leicht. »Oh«, flüsterte sie, »da ist dein Vater.«
»Das ist sehr schlau«, sagte Golden.
»Di hat es sich ausgedacht«, sagte Rose.
Golden mochte das Mädchen nicht. Sie war frech und zurückhaltend, vorlaut und schüchtern zugleich. Sie war ein Mädchen, ein Jahr jünger als Diamant und die Tochter einer Hexe. Er hätte gewollt, dass sein Sohn mit den gleichaltrigen Jungen aus den angesehenen Familien von Lichting spielte. Tuly bestand darauf, die Hexe eine >weise Frau< zu nennen, aber Hexe blieb Hexe und ihre Tochter war kein Umgang für Diamant. Dennoch schmeichelte es ihm ein wenig zu sehen, dass sein Junge einem Hexenkind Zaubertricks beibrachte.
»Was kannst du sonst noch, Diamant?«, fragte
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