Das Vermächtnis von Erdsee
Mann von großer Geduld und starkem Willen tat er das vier Jahre lang, bis Diamant sechzehn war: ein großer junger Mann von angenehmem Äußeren, gut bei Spielen und im Lernen, immer noch rotbäckig und fröhlich und mit leuchtenden Augen. Der Stimmbruch war bitter für ihn gewesen, als seine süße, helle Stimme rau und heiser geworden war. Golden hatte gehofft, dass es nun mit dem Singen ein Ende hätte. Doch der Junge zog weiterhin mit fahrenden Musikanten, Bänkelsängern und solchem Volk herum und lernte all ihre Weisen. Das war kein Leben für den Sohn eines Kaufmanns, der von seinem Vater Besitz und Mühlen und das Geschäft erben würde und damit umgehen können musste, und Golden sagte ihm das. »Die Zeit zum Singen ist vorbei, mein Sohn«, meinte er. »Du musst daran denken, ein Mann zu werden.«
Diamant hatte seinen wahren Namen bei der Quelle der Amia bekommen, in den Hügeln oberhalb von Lichting. Der Zauberer Hemlock, der seinen Großonkel, den Magier, gekannt hatte, war von Südhafen gekommen, um ihm seinen Namen zu geben. Und Hemlock wurde ein Jahr später zu seinem Namenstagsfest eingeladen, ein großes Fest mit Bier und Essen für alle und neuen Kleidern, einer Bluse oder einem Rock oder einem Hemd für jedes Kind, wie es in West-Havnor alter Brauch war, und Tanz auf der Dorfwiese im lauen Herbstabend. Diamant hatte viele Freunde, alle Jungen in der Stadt und auch alle Mädchen. Die jungen Leute tanzten, und einige von ihnen tranken etwas zu viel
Bier, aber niemand benahm sich wirklich schlimm daneben und so war es ein fröhlicher und denkwürdiger Abend. Am nächsten Morgen sagte Golden seinem Sohn noch einmal, dass er daran denken müsse, ein Mann zu werden.
»Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete der Junge mit belegter Stimme.
»Und?«
»Nun, ich...« Diamant stockte.
»Ich habe immer darauf gezählt, dass du ins Familiengeschäft einsteigen würdest«, sagte Golden. Sein Ton war neutral und Diamant zog es vor zu schweigen. »Hast du irgendwelche Vorstellungen, was du tun möchtest?«
»Manchmal.«
»Hast du mit Meister Hemlock darüber gesprochen?«
Diamant zögerte und sagte: »Nein.« Er sah seinen Vater fragend an.
»Ich habe gestern Abend mit ihm geredet«, berichtete Golden. »Er sagte mir, dass es bestimmte natürliche Anlagen gibt, die zu unterdrücken nicht nur schwierig, sondern regelrecht falsch und schädlich ist.«
Das Leuchten war in Diamants dunkle Augen zurückgekehrt.
»Der Meister sagt, dass solche Gaben oder Fähigkeiten nicht nur vergeudet sind, sondern auch gefährlich werden, wenn man sie nicht richtig schult. Die Kunst muss erlernt und geübt werden, sagte er.«
Diamants Gesicht strahlte.
»Aber er meinte, sie müsse um ihrer selbst willen erlernt und geübt werden.«
Eifrig nickte Diamant.
»Wenn es eine echte Begabung ist, eine ungewöhnliche Fähigkeit, dann gilt das nur umso mehr. Eine Hexe mit ihren Liebestränken kann nicht viel Schaden anrichten, aber schon ein Dorfzauberer, meinte er, muss Acht geben, denn wenn er seine Kunst für niedrige Zecke einsetzt, wird sie schwach und schädlich... Natürlich wird auch ein Zauberer bezahlt. Und wie du weißt, leben Zauberer am Hof der Herren und bekommen, was immer sie sich wünschen.«
Diamant hörte aufmerksam zu, runzelte ein wenig die Stirn.
»Um es rundheraus zu sagen, Diamant, wenn du diese Begabung hast, so ist das für unser Geschäft unmittelbar von keinem Nutzen. Sie muss nach ihren eigenen Gesetzen geschult und unter Kontrolle gebracht werden - erlernt und beherrscht. Erst dann, meinte er, können deine Lehrer dir sagen, was du damit anfangen kannst, was sie dir Gutes zu bringen vermag. Oder anderen«, setzte er gewissenhaft hinzu.
Eine lange Pause entstand.
»Ich habe ihm erzählt«, sagte Golden, »dass ich dich gesehen habe, wie du mit einer Handbewegung und mit einem einzigen Wort die Holzfigur eines Vogels in einen Vogel verwandelt hast, der flog und sang. Ich habe beobachtet, wie du in dünner Luft ein Feuer hast aufflammen lassen. Du hast es nicht gewusst, aber ich habe lange Zeit zugesehen und nichts gesagt. Ich wollte von einfachen Kindereien nicht zu viel Aufhebens machen. Aber ich glaube, dass du eine Begabung hast, vielleicht eine große Begabung. Als ich Meister Hemlock von all dem erzählte, stimmte er mir zu. Er sagte, du könntest bei ihm in Südhafen lernen, für ein Jahr oder vielleicht länger.«
»Bei Meister Hemlock lernen?«, fragte Diamant und seine Stimme lag
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