Das Vermächtnis von Erdsee
ihm. Die Mauleselin hatte einen weichen, hochbeinigen Gang und ihr weißes Fell leuchtete in der Morgensonne. Gabe kam es so vor, als sehe sie einen Prinzen davon reiten, eine Märchenfigur, bis die Gestalten zu Pferd, die durch den silbrigen Dunst und durch das helle Graubraun der winterlichen Felder ritten, im Licht verblassten und schließlich verschwunden waren.
Es war harte Arbeit, draußen auf den Weiden. »Wer arbeitet denn nicht hart?«, hatte Emer gefragt und ihre vollen, kräftigen Arme vorgezeigt, ihre harten, roten Hände. Der Viehzüchter Alder erwartete von ihm, dass er draußen auf den Weiden blieb, bis er jedes lebende Rind der großen Herde da draußen berührt hatte. Alder hatte zwei Viehhüter hinausgeschickt. Sie richteten sich ein notdürftiges Lager ein, mit einer Bodenplane und einem Zeltdach. Es gab nichts Brennbares dort draußen im Moor außer Reisig und totem Schilf, und das Feuer reichte kaum zum Wasserkochen und nie, um einen zu wärmen. Sie ritten über die trockenen Wiesen und versuchten, die verstreut grasenden Tiere zusammenzutreiben, sodass er sie als Herde vor sich hatte und nicht jedes einzeln aufsuchen musste. Die Viehhüter konnten die Rinder nicht lange beieinander halten und wurden böse auf sie und auf ihn, weil es nicht schneller voranging. Ihm kam es seltsam vor, dass sie keine Geduld mit den Tieren hatten, sie gingen mit ihnen um wie mit Dingen, wie Holzflößer mit ihren Baumstämmen im Fluss, mit roher Gewalt.
Auch mit ihm hatten sie keine Geduld - trieben ihn dauernd an, schneller zu machen und fertig zu werden - und auch mit sich selbst nicht, mit ihrem Leben. Wenn sie miteinander sprachen, ging es immer darum, was sie in der Stadt unternehmen würden, in Oraby, wenn sie ihren Lohn ausbezahlt bekamen. Er hörte eine ganze Menge über die Huren von Oraby, Margarita und Goldie und die eine, die >Brennender Busch< genannt wurde. Er musste bei den jungen Männern sitzen, denn sie alle brauchten das bisschen Wärme, das vom Feuer ausging, aber sie wollten ihn nicht dort haben und er wollte nicht bei ihnen sein. Er wusste, dass sie unbestimmte Furcht vor dem Zauberer verspürten und Neid auf ihn, vor allem aber Verachtung. Er war alt, anders, keiner von ihnen. Furcht und Neid, die kannte er, und er schreckte davor zurück; Verachtung, an die erinnerte er sich. Er war froh, keiner von ihnen zu sein und dass sie nicht von ihm erwarteten, dass er mit ihnen redete. Er hatte Angst, ihnen Unrecht zu tun.
In der eisigen Frühe des Morgens, wenn sie in ihre Decken eingerollt schliefen, stand er auf. Er wusste, wo das Vieh ganz in der Nähe war, und ging hin. Die Krankheit war ihm mittlerweile sehr vertraut. Er fühlte sie als ein Brennen in seinen Händen und wenn sie weit fortgeschritten war, als Übelkeit. Als er zu einem Stier trat, der am Boden lag, wurde ihm schwindlig und er fühlte Brechreiz. Er ging nicht näher heran, sprach nur die Worte, die das Sterben womöglich erleichtern würden, und schritt weiter.
Sie duldeten es, dass er zwischen ihnen herumging, sie waren wild, hatten sie doch von der Hand des Menschen nichts als Kastration und Schlachten erfahren. Er freute sich an ihrem Zutrauen zu ihm, war stolz darauf. Das sollte er nicht, doch er empfand trotzdem so. Wenn er eins der großen Tiere berühren wollte, brauchte er nur stehen zu bleiben und eine Weile mit ihm zu sprechen, in der Sprache derer, die nicht sprechen. »Ulla«, sagte er und nannte sie beim Namen. »Ellu. Ellua.« Massig und gleichmütig standen sie da; manchmal sah ihn eines der Tiere lange an. Dann wieder kam eines auf ihn zu mit seinem leichten, federnden, majestätischen Schritt und schnaubte ihm in die geöffnete Hand. Alle, die zu ihm kamen, konnte er heilen. Er legte seine Hände auf sie, auf ihre borstigen, heißen Flanken und Nacken und sandte die Heilkraft durch seine Hände, sprach wieder und wieder die Worte der Macht. Nach einer Weile würde das Tier sich schütteln oder den Kopf ein wenig senken oder einen Schritt vorwärts tun. Und er konnte seine Hände wegnehmen und so stehen bleiben, ausgelaugt und leer, eine Weile lang. Dann würde ein anderes Tier kommen, groß, neugierig, schüchtern und kühn, mit Schlamm verschmiert und mit der Krankheit in sich wie ein Prickeln, ein Kribbeln, eine Hitze in seinen Händen, ein Schwindelgefühl. »Ellu«, würde er sagen und zu den Tieren gehen und seine Hände auf sie legen, bis sie sich kühl anfühlten. Als ob ein Gebirgsbach durch sie
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