Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
Vom Netzwerk:
standen. Niemand besaß Pferde außer Alder und die waren für seine Viehhüter bestimmt. Sie stellte ihrem Gast eine Schüssel mit heißem Wasser für seine geplagten Füße hin und gab ihm ein sauberes Handtuch, und dann fragte sie ihn, ob er ein Bad nehmen wolle, was er bejahte. Sie erhitzten das Wasser und füllten die alte Badewanne; sie ging in ihr Zimmer, während er beim Herd sein Bad nahm. Als sie wiederkam, war alles weggeräumt und aufgewischt, die Handtücher hingen am Feuer. Sie hatte noch nie einen Mann gesehen, der auf solche Dinge achtete, und wer erwartete das schon bei einem reichen Mann? Sollte er dort, wo er herkam, etwa keine Diener haben? Man hatte mit ihm nicht mehr Mühe als mit dem Kater. Er wusch seine Kleider selbst, sogar die Bettlaken, wrang sie aus und hängte sie an einem sonnigen Tag draußen auf, noch bevor sie wusste, was er tat. »Ihr braucht das nicht zu tun, mein Herr, ich wasche Eure Sachen zusammen mit meinen«, sagte sie.
    »Nicht nötig«, erwiderte er auf diese zurückhaltende Art, als ob er Schwierigkeiten hätte zu verstehen, wovon sie redete. Doch dann sagte er: »Ihr arbeitet sehr hart.«
    »Wer arbeitet denn nicht hart? Ich liebe das Käsemachen. Es ist vielseitig. Und ich bin stark. Ich fürchte mich bloß vor dem Altwerden, wenn ich die Eimer und die Formen nicht mehr heben kann.« Sie zeigte ihm ihre vollen, muskulösen Arme, machte eine Faust und lächelte. »Ganz nett für fünfzig!«, meinte sie. Es war dumm, so zu prahlen, doch sie war stolz auf ihre kräftigen Arme, auf ihre Tatkraft und Geschicklichkeit.
    »Das macht die Arbeit schneller«, sagte er ernst.
    Er hatte eine Art, mit ihren Kühen umzugehen, die war einfach wundervoll. Wenn er da war und sie Hilfe brauchte, nahm er Berrys Stelle ein, und er ging, wie sie ihrem alten Freund Lohe erzählte, mit den Kühen geschickter um als früher Brens Hund. »Er redet mit ihnen, und ich könnte schwören, sie verstehen, was er sagt. Diese Färse läuft ihm nach wie ein Hündchen.« Was auch immer er auf den Weiden mit den Rindern anstellte, die Viehzüchter bekamen nach und nach eine gute Meinung von ihm. Sicher hätten sie sich an jedes Versprechen von Hilfe geklammert. Die Hälfte von Sans Herde war verendet. Alder erzählte nicht, wie viele Tiere er verloren hatte. Überall lagen tote Rinder herum. Wäre es nicht so kalt gewesen, hätte das ganze Moor nach verwesendem Fleisch gestunken. Man durfte kein Wasser trinken, ohne es eine Stunde lang abgekocht zu haben, außer dem aus dem Molkereibrunnen oder dem aus dem Dorfbrunnen.
    Eines Morgens tauchte im Hof vor dem Haus einer von Alders Viehhütern auf, zu Pferd und mit einem gesattelten Maultier neben sich. »Meister Alder sagt, Meister Otak soll darauf reiten, weil es bis zu den Weiden im Osten hinaus zehn, zwölf Meilen sind«, sagte der junge Mann.
    Ihr Gast trat aus dem Haus. Es war ein heller, dunstiger Morgen, das Moor in leuchtendem Nebel verborgen. Der Andanden schwebte über dem Dunst, eine große, gebrochene Silhouette am nördlichen Himmel.
    Der Heiler sagte nichts zu dem Viehhüter, sondern ging gleich auf das Muli oder die Mauleselin zu, eine Mischung aus Sans großer Eselin und Alders Schimmel. Sie war ein weiß gefleckter Rotschimmel, jung, mit einem hübschen Gesicht. Er trat zu ihr hin und redete einen Augenblick mit ihr, flüsterte etwas in ihr großes, empfindliches Ohr und kraulte ihr den Kopf.
    »Er macht das immer so. Redet mit ihnen«, sagte der Viehhüter zu Gabe, voller Spott und Verachtung. Er war einer von Berrys Zechkumpanen im Wirtshaus, ein recht anständiger junger Kerl für einen Viehhüter.
    »Kuriert er die Rinder?«, fragte sie.
    »Nun, er kann die Seuche nicht auf einmal wegnehmen. Doch es sieht so aus, als könnte er die Tiere heilen, wenn er dazukommt, bevor das Torkeln anfängt. Und die, die noch nicht befallen sind, sagt er, kann er davor schützen. So schickt der Meister ihn überall auf die Weiden, damit er sein Möglichstes tut. Für viele ist es zu spät.«
    Der Heiler untersuchte das Zaumzeug, lockerte einen Riemen und stieg in den Sattel, nicht geübt, doch die Mauleselin wehrte sich nicht. Sie wandte ihre lange, cremeweiße Nase und ihre schönen Augen nach ihrem Reiter um und sah ihn an. Er lächelte. Gabe hatte ihn noch nie lächeln sehen.
    »Sollen wir losreiten?«, sagte er zu dem Viehhüter, der Gabe kurz zuwinkte und sich mit einem Schnauben seiner kleinen Stute sogleich in Bewegung setzte. Der Heiler folgte

Weitere Kostenlose Bücher