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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Großvater. Ich will ihn nicht. Ich will ihn nicht haben. Er gehört nicht zu mir. Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin. Ich bin nicht Irian!« Sie verstummte plötzlich, als sie ihren Namen aussprach.
    Die Hexe schwieg noch immer. In der Dunkelheit gingen sie nebeneinander her. Endlich sagte Rose mit begütigender, doch bewegter Stimme: »Es ist so gekommen...«
    »Wenn du das jemals irgendwem erzählst, bringe ich dich um«, zischte Schwebender Drache.
    Da blieb die Hexe stehen. Sie fauchte wie eine Katze. »Irgendwem erzählen?«
    Schwebender Drache blieb ebenfalls stehen. Nach einem Augenblick sagte sie: »Es tut mir Leid. Aber ich fühle mich... Ich fühle mich so, als hättest du mich betrogen.«
    »Ich habe deinen wahren Namen genannt. Er ist nicht der, den ich vermutet hätte. Aber es ist dein Name. Wenn er dich betrügt, dann ist eben das seine Wahrheit.« Rose hielt inne und sprach dann besonnener weiter. »Wenn du die Macht haben möchtest, mich zu betrügen, Irian, dann gebe ich sie dir. Mein Name ist Etaudis.«
    Es war wieder Wind aufgekommen. Beide zitterten und klapperten mit den Zähnen. Sie standen dicht beisammen auf dem Weg und konnten doch kaum erkennen, wo die andere war. Schwebender Drache streckte tastend eine Hand aus und fand die der Hexe. Sie schlossen sich lang und fest in die Arme. Dann eilten sie weiter, die Hexe in ihre Hütte beim Dorf, die Erbin von Iria den Hügel hinauf zu dem verfallenen Haus, wo sämtliche Hunde, die sie ohne weiteres hatten gehen lassen, sie mit lautem Gebell empfingen, das im Umkreis einer halben Meile jeden aufweckte außer dem Herrn von Iria: Der saß sinnlos betrunken an seinem kalten Herd.

2. Elfenbein
     
    Das alte Haus gehörte dem Herrn von Westpfuhl-Iria zwar nicht, dafür aber gehörten ihm die bestgelegenen und reichsten Ländereien des ehemaligen Gutes. Der Vater, der sich mehr für Weine und Obstgärten erwärmt hatte denn für Streitereien mit seinen Verwandten, hatte Birke ein blühendes Anwesen hinterlassen. Birke stellte Männer ein, die sich um die Landwirtschaft und die Weinkeller, um die Böttcherei und den Transport kümmerten, während er seinen Reichtum genoss. Er heiratete die schüchterne Tochter des jüngeren Bruders des Herrn von Weg-Förde, und der Gedanke, dass seine Töchter von Adel waren, bereitete ihm maßloses Vergnügen. In Adelskreisen war es damals Mode, einen Zauberer in seinen Diensten zu haben, einen echten Zauberer mit Stab und grauem Umhang, ausgebildet auf der Insel der Weisen, und so ließ der Herr von West pfuhl-Iria einen Zauberer aus Rok kommen. Er war überrascht, wie leicht dies vonstatten ging, wenn man den geforderten Preis bezahlte.
    Der junge Mann, der sich Elfenbein nannte, trug jedoch vorerst weder Stab noch Umhang; er erklärte, dass er Zauberer werden würde, sobald er nach Rok zurückkehrte. Die Meister hätten ihn in die Welt hinausgeschickt, um Erfahrung zu sammeln, denn aller Unterricht kann einem Mann nicht die Erfahrung vermitteln, die er braucht, um Zauberer zu sein. Birke hatte seine Zweifel, doch Elfenbein versicherte ihm, dass seine Ausbildung auf Rok ihn jede Art von Magie gelehrt hatte, die in Westpfuhl-Iria auf Weg gebraucht werden könnte. Als Beweis brachte er die Illusion einer Schar Hirsche hervor, die durch den Speisesaal liefen, gefolgt von einem Schwarm Schwäne, die wunderbarerweise durch die nördliche Wand herein-und durch die südliche Wand wieder hinausschwebten; zuletzt erhob sich in der Mitte des Tisches in einem silbernen Becken ein Springbrunnen, und als der Hausherr und seine Familie vorsichtig dem Beispiel des Zauberers folgten und ihre Gläser mit dem Nass füllten, war es süßer goldener Wein. »Wein von den Andraden«, sagte der junge Mann mit einem bescheidenen, wenn auch selbstgefälligen Lächeln. Da waren die Frau und die Töchter vollends überzeugt. Und Birke dachte, dass der junge Mann sein Geld wert war, obwohl er persönlich den trockenen roten Fanian aus seinen eigenen Weingärten vorzog, der einen berauschte, wenn man genug davon trank, während dieses gelbe Zeug hier wie Zuckerwasser war.
    Wenn der junge Zauberer Erfahrung sammeln wollte, dann war Westpfuhl kaum der geeignete Ort. Wann immer Birke Gäste aus Kembermünde oder von den Nachbargütern hatte, standen das Rudel Hirsche, die Schwäne und der Springbrunnen mit goldenem Wein auf dem Programm. An warmen Frühlingsabenden zauberte er zudem ein paar sehr hübsche Feuerwerke. Doch wenn die Aufseher der

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