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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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dass man sich selbst den Namen verleiht.«
    »Warum nicht? Was ist mehr du selbst als dein wahrer Name?«
    Langes Schweigen folgte.
    Die Hexe tauchte wieder auf mit einem Spinnrad und einem Ballen fetter Wolle unterm Arm. Sie ließ sich auf der Bank neben der Tür nieder und setzte das Spinnrad in Bewegung. Als sie etwa einen Meter graubraunes Garn gesponnen hatte, setzte sie zu einer Antwort an.
    »Mein Name bin ich selbst, das ist wahr. Aber was ist denn ein Name? Ein anderer nennt mich so. Wenn da kein anderer wäre, nur ich, wozu wären Namen dann gut?«
    »Aber...«, entgegnete Schwebender Drache und verstummte dann, von dem Einwand beeindruckt. Nach einer Weile sagte sie: »Dann muss ein Name eine Gabe sein?«
    Rose nickte.
    »Gib mir meinen Namen, Rose«, bat das Mädchen.
    »Dein Vater will es nicht.«
    »Ich will es.«
    »Er ist hier der Herr.«
    »Er kann mich arm und dumm und unter der Knute halten, aber er kann mich nicht ohne Namen lassen!«
    Die Hexe stöhnte wie das Schaf, unwillig und wie unter Zwang.
    »Heute Abend«, sagte Schwebender Drache, »bei unserer Quelle unterhalb des Iria-Hügels. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß.« Ihre Stimme war halb einschmeichelnd, halb wild.
    »Du solltest deinen Namenstag richtig begehen, mit einem Fest und Tanz, wie jeder junge Mensch«, erwiderte die Hexe. »Der Name sollte bei Tagesanbruch verliehen werden. Und anschließend sollte es Musik und ein Fest geben und all das. Nicht in der Nacht davonschleichen und keiner weiß was davon...«
    »Ich will ihn kennen. Wie weißt du, welchen Namen du sagen musst, Rose? Sagt es dir das Wasser?«
    Die Hexe schüttelte den eisengrauen Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen.« Schwebender Drache wartete. Rose hörte auf mit Spinnen und blickte mit einem Auge zu einer Wolke im Westen, das andere Auge betrachtete etwas weiter nördlich den Himmel. »Du stehst da im Wasser, gemeinsam mit dem Kind. Du nimmst den Kindsnamen weg. Die Leute können ihn auch weiterhin als gewöhnlichen Namen gebrauchen, aber es ist nicht der wirkliche Name und ist es auch nie gewesen. In diesem Augenblick ist es kein Kind und hat keinen Namen. Du wartest. Du öffnest deinen Geist, wie... wie die Türen eines Hauses, damit der Wind hineinweht. Und so kommt er zu dir. Deine Zunge spricht ihn aus, den Namen. Dein Atem formt ihn. Du gibst ihn dem Kind, den Atem, den Namen. Vorsätzlich daran denken kannst du nicht. Du lässt ihn in dich einfließen. Er muss durch dich hindurchgehen zu demjenigen, dem er gehört. Das ist die Macht, ihre Art zu wirken. Alles ist so. Es ist nicht etwas, das du tust. Du musst wissen, wie man es wirken lässt. Das ist die ganze Meisterschaft.«
    »Magier vermögen auch nicht mehr als das«, meinte das Mädchen.
    »Keiner vermag mehr als das«, sagte Rose.
    Schwebender Drache ließ den Kopf kreisen und legte ihn in den Nacken, bis die Wirbel knackten, streckte unruhig ihre langen Arme und Beine. »Wirst du es machen?«
    Rose nickte einmal.
    Sie trafen sich auf dem Weg unter dem Iria-Hügel in der Dunkelheit der Nacht, lange nach Sonnenuntergang und lange vor der Morgendämmerung. Rose zauberte einen kleinen Werlicht-Schimmer herbei, sodass sie auf dem sumpfigen Gelände rund um die Quelle ihren Weg ausmachen konnten, ohne in eines der Sumpflöcher im Schilf zu geraten. In der kalten Dunkelheit unter ein paar Sternen und der flachen Linie des Hügels zogen sie sich aus und wateten in das flache Wasser, wobei ihre Füße tief in den weichen Schlamm einsanken. Die Hexe be rührte die Hand des Mädchens und sagte: »Ich nehme deinen Namen von dir, Kind. Du bist kein Kind. Du hast keinen Namen.«
    Es war vollkommen still.
    Im Flüsterton sagte die Hexe: »Frau, sei benannt. Du bist Irian.«
    Noch ein Weilchen verharrten sie schweigend. Dann strich ihnen der Nachtwind über die nackten Schultern, und zitternd stiegen sie aus dem Wasser, trockneten sich ab, so gut es ging, stolperten barfuß mitten durch das scharfkantige Schilf und fanden schließlich zurück auf den Weg. Und da zischte Schwebender Drache wütend: »Wie konntest du mich so nennen!«
    Die Hexe schwieg.
    »Es ist nicht richtig. Irian ist nicht mein wahrer Name! Ich dachte, mein wahrer Name werde mir erlauben, ich selbst zu werden. Aber dies macht alles nur noch schlimmer. Du hast etwas falsch verstanden. Du bist bloß eine Hexe und hast etwas falsch gemacht. Es ist sein Name. Er kann ihn haben. Er ist so stolz auf seinen blöden Besitz und seinen blöden

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