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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Dorfzauberer. Dieser Mann ist ein weiser Magier. Er hat die Hohe Kunst im Großhaus von Rok gelernt!«
    »Er hat mir erzählt, wie es dort ist«, sagte Schwebender Drache. »Man geht durch die Stadt, durch Thwil. Eine Tür geht auf die Straße, aber sie ist geschlossen. Sie sieht aus wie eine gewöhnliche Tür.« Die Hexe hörte zu, konnte der Verlockung nicht widerstehen und ließ sich durch die leidenschaftliche Neugier des Mädchens anstecken, das ihr streng gehütete Geheimnisse zu enthüllen versprach. »Wenn man anklopft, kommt ein Mann, ein ganz gewöhnlich aussehender Mann. Er stellt einem eine Aufgabe. Man muss ein bestimmtes Wort sagen, bevor er einen einlässt. Wenn man es nicht weiß, wird man nicht eingelassen. Doch wenn er einen hineinlässt, sieht man, dass die Tür von innen ganz anders aussieht: Sie ist aus Horn, mit einem eingravierten Baum darauf, und der Türrahmen ist aus einem Zahn gemacht, aus dem Zahn eines Drachen, der lange, lange vor Erreth-Akbe und vor Morred gelebt hat, bevor es in der Erdsee überhaupt Menschen gab. Am Anfang gab es nur Drachen. Der Zahn wurde am Berg Onn gefunden, in Havnor, dem Mittelpunkt der Welt. Und die Blätter des Baums sind so tief eingraviert, dass das Licht durch sie hindurchscheint, aber die Tür ist so stark, dass kein Zauber der Welt sie öffnen könnte, wenn der Pförtner sie geschlossen hat... Und dann führt einen der Pförtner in einen Saal und in noch einen, bis man völlig verwirrt ist und die Orientierung verloren hat. Plötzlich befindet man sich unter freiem Himmel, im Brunnenhof, dem Innersten des Großhauses. Und dort würde einen der Erzmagier erwarten, wenn er da wäre...«
    »Weiter«, murmelte die Hexe.
    »Das ist alles, was er mir bisher erzählt hat«, sagte Schwebender Drache und kehrte zurück in die Gegenwart, in den milden, bedeckten Frühlingstag und die unendliche Vertrautheit der Dorfstraße, in Roses Vorgarten, zu ihren eigenen sieben Milchschafen, die am Iria-Hügel grasten, und der Eichenkrone obenauf. »Er achtet sehr darauf, wie er über seine Meister spricht.«
    Rose nickte.
    »Aber er hat mir von einigen der Schüler erzählt.«
    »Da ist nichts Schlimmes dabei, nehme ich an.«
    »Ich weiß nicht«, meinte Schwebender Drache. »Vom Großhaus erzählen zu hören ist wunderbar, aber ich dachte, die Leute dort wären... ich weiß auch nicht. Natürlich sind die meisten bloß Jungen, wenn sie hinkommen. Aber ich dachte, sie wären...« Sie sah zu den Schafen am Hang hinüber, das Gesicht unruhig. »Einige von ihnen sind wirklich dumm und böse«, sagte sie leise. »Sie kommen in die Schule, weil sie reich sind. Und sie lernen dort, um noch reicher zu werden. Oder um Macht zu erlangen.«
    »Nun, natürlich tun sie das«, erwiderte Rose, »dafür sind sie ja dort hingegangen!«
    »Aber Macht, wie du sie mir beschrieben hast, ist nicht dasselbe, wie die Leute dazu zu bringen, dass sie tun, was man will, oder einen dafür zu bezahlen...«
    »Ist es das nicht?«
    »Nein!«
    »Wenn ein Wort heilen kann, dann kann es auch verletzen«, sagte die Hexe. »Wenn eine Hand töten kann, dann kann sie auch streicheln. Es ist ein schlechter Wagen, der nur in eine Richtung fahren kann.«
    »Aber auf Rok lernt man, die Macht im Guten zu gebrauchen, nicht zum Schaden, nicht zum eigenen Gewinn.«
    »Letztlich ist doch alles für den eigenen Gewinn, würde ich sagen. Die Leute müssen schließlich von etwas leben. Aber was weiß denn ich schon? Ich lebe von dem, wovon ich wirklich was verstehe und was ich eben kann. Ich lass mich nicht auf die großen Künste ein, gefährliche Künste wie die Beschwörung der Toten.« Rose machte eine Handbewegung, um die Gefahr, von der sie sprach, abzuwenden.
    »Alles ist gefährlich«, erwiderte Schwebender Drache, die jetzt durch die Schafe, den Hügel, die Bäume hindurchschaute in eine stille Tiefe, eine große Leere - wie ein klarer Himmel vor Sonnenaufgang.
    Rose beobachtete sie. Ihr war bewusst, dass sie nicht wusste, wer Irian war und was aus ihr werden konnte. Eine große, starke, tölpische, ungebildete, unschuldige und ärgerliche Frau, ja. Aber schon als kleines Mädchen hatte Rose mehr in ihr gesehen, etwas jenseits ihrer selbst. Und wenn Irian so wie jetzt aus der Welt hinausschaute, schien sie in einen Raum, eine Zeit oder ein Sein jenseits ihrer selbst einzutauchen, weit außerhalb von Roses Wissen und Verständnis. Dann hatte sie Angst vor ihr, Angst um sie.
    »Gib du nur Acht auf dich«, sagte die

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