Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
schritt zielstrebig auf das Stadttor zu. Kommandeur Chorain war entsetzt, wie wenige seiner Männer noch lebten, stimmte jedoch in das Siegesgeschrei der Shandeser ein, die den Zauberlord an der Stadtmauer begrüßten.
»Öffnet das Tor«, befahl Chorain. »Lasst Lord Shanier in die Stadt.«
Die Männer gehorchten umgehend. Die riesigen Türflügel öffneten sich und gaben dem siegreichen Zauberlord den Weg in die eroberte Stadt frei.
Shanier ging mit großen Schritten in die Stadt hinein. Über dem einen Arm trug er ein Stoffbündel. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, erklomm er die Treppe zur Stadtmauer und dann den Torturm, auf dem die königliche Flagge von Thrandor schlaff an der Fahnenstange hing. Shanier ließ sie herunter und hisste stattdessen die Flagge des Kaisers von Shandar. Shanier lächelte, als sie oben am Mast wehte.
Wieder erhob sich Jubel unter den shandesischen Soldaten. Sie stürmten von der Stadtmauer und ergossen sich über die Stadt, um zu plündern.
Kommandeur Chorain war nicht nach einem Beutezug zu Mute. Er stand auf der Stadtmauer und starrte gedankenverloren die Flagge an, die über dem Wachturm sanft in der Brise wehte. Sie hatten es geschafft. Mantor war eingenommen, das Reich Thrandor in shandesischer Hand. Trotz der Verluste, die sie hatten hinnehmen müssen, schmeckte der Sieg süß und Chorain spürte einen überwältigenden Stolz.
Da sah Chorain, dass Lord Shanier die Stadt schon wieder verließ.
»Was macht er nur?«, murmelte Chorain und folgte Shanier mit den Augen.
Just in dem Augenblick, da Shanier die weiße Wand erreichte, die noch immer vor der Stadt lag, löste sich der Nebel plötzlich auf. Zu Chorains Verblüffung stand dort das Heer aus Nordthrandor, sauber aufgestellt neben der Reserveeinheit aus Shandar.
»Kein Wunder, dass es so eng zuging«, rief Chorain wütend aus. »Er hat die Thrandorier gar nicht eingesetzt, ganz zu schweigen von der Reserve!«
Chorain wurde schwarz vor Augen und er taumelte benommen gegen die Brustwehr. Als der Schwindel nachließ,
schüttelte sich der Kommandeur und nahm einen tiefen Zug aus seiner Feldflasche.
Er setzte die Flasche gerade an die Lippen, da fiel sein Blick ein zweites Mal auf die Streitkräfte vor der Stadt. Chorain ließ die Flasche sinken und klappte ungläubig den Mund auf. Entsetzen überkam ihn.
Die Soldaten der Reserve trugen gar keine shandesische Uniform. Nein, das waren thrandorische Verbände. Dort, mitten im Heer, wehte das Banner des Königshauses Thrandor.
Chorain blickt sich um: Die Stadtmauer, auf der er stand, glänzte auch nicht mehr golden wie am Vormittag, sondern war staubgrau. Und die gefallenen Verteidiger trugen nicht etwa thrandorische Uniform, sondern die Tracht der Wüstenbewohner. Die gesamte Schlacht war eine riesige Täuschung gewesen, eine völlig andere allerdings, als er es vermutet hatte. Chorain setzte die Puzzlestücke zusammen: Sie waren gar nicht in Mantor. Das musste Kortag sein.
In diesem Augenblick stürmte die thrandorische Kavallerie los.
»Bei Shand! Das Tor!«, keuchte Chorain. Gleich war ihm klar, dass er nichts mehr ausrichten konnte. Die überlebenden shandesischen Soldaten zogen plündernd und brandschatzend durch die Stadt und ahnten nichts vom drohenden Verhängnis. Chorain konnte sie unmöglich zu einer schlagkräftigen Truppe vereinen, die das anstehende Gemetzel noch verhindern konnte.
Chorain war hin und her gerissen. Was sollte er tun? Er kam nicht an seine Männer heran, doch wenn er jetzt floh und seine eigene Haut rettete, musste er sich den Rest seiner Tage vorwerfen, sein Heer im Stich gelassen zu haben.
»Sei verdammt, Shanier! Dafür wirst du büßen, das schwöre ich«, fluchte er und spuckte über die Stadtmauer.
Während die Kavallerie die Stadttore sicherte und die Infanterie geordnet in die Stadt einmarschierte, löste sich eine kleine Reitergruppe und schnitt Lord Shanier den Weg ab. Der Zauberer verbeugte sich. Die Gruppe bestand aus niemand Geringerem als dem König, Baron Anton und einem kleinen Gefolge aus Adligen.
»So sehen wir uns also wieder, Majestät.«
»Gefreiter Calvyn, für einen, der noch so jung ist, steckst du voller Überraschungen. Erst wendest du in der Schlacht von Mantor mit deinem magischen Feuerwerk das Glück zu unseren Gunsten, und nun dies! Eine feindliche Streitkraft tief nach Thrandor zu führen, sie dort eine zweite feindliche Streitmacht angreifen zu lassen und auf die Art beide lahmzulegen – ich kann
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