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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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der störrischste Esel; und ich bestrafte mich.«
    »Dich?« Sie sah ihn verwundert an. »Aber du konntest doch nichts dafür!«
    »Ich bestrafte mich dafür, dass ich solch ein Schaf gewesen war, dass ich mich einfach in das Schicksal gefügt hatte, das andere für mich ausgesucht hatten, statt einfach aus dem Kloster auszureißen und zu meiner Mutter zurückzukehren, solange noch Zeit dazu gewesen war. Also tat ich alles, um den Zorn meines Meisters zu erregen, und wurde zu Arrest und Strafarbeit verdonnert.«
    »Was hätte es genutzt auszureißen?«, gab Cassandra zu bedenken. »Sie hätten dich gefunden und zurückgeholt.«
    »Ganz sicher«, räumte Rowan ein. »Aber ich hätte meine Mutter noch einmal gesehen. Nur noch einmal, verstehst du?« Er hatte Tränen in den Augen, trotzdem wandte er den Blick von den Flammen und schaute Cassandra an. Nie zuvor hatte er diese Dinge einem anderen Menschen offenbart, nie jemandem so sehr vertraut. Sie dankte es ihm, indem sie sich zu ihm herüberbeugte und ihm einen Kuss auf die Lippen hauchte.
    »Es tut mir leid«, sagte sie leise.
    »Auch du kannst nichts dafür«, erwiderte er mit mattem Lächeln. »Es dauerte nicht lange«, fuhr er dann fort, »da hatte mein Meister genug von mir. Er war ohnehin kein besonders geduldiger Mensch. Ich wurde ins Kloster von Tintern geschickt, wo man es aber ebenfalls nicht sehr lange mit mir aushielt. Als einige der Brüder nach Frankreich aufbrachen, nahmen sie mich mit und ließen mich im Kloster von Clairvaux zurück. Da ich noch nicht einmal die Sprache beherrschte, wurde ich zum Latrinendienst eingeteilt.«
    »Latrine?« Sie hob die Brauen, das Wort schien ihr nichts zu sagen.
    »Schon gut.« Er winkte ab. »Ich blieb lange genug, um die Sprache zu erlernen. Dann gab es eines Tages ein Feuer.«
    »Un feu?« , fragte sie. »Du meinst, einen Brand?«
    »Nein, es war mehr« – er formte mit den Händen einen Ball in der Luft –, »mehr ein großer Knall. Jedenfalls stand die Latrinenhütte danach nicht mehr. Die Mönche konnten mir nichts nachweisen, aber sie ahnten, dass ich etwas damit zu tun hatte. Also wanderte ich ins nächste Kloster. Und von dort ins übernächste. Der Bruder, dem ich in Sénanque zugeteilt wurde, hatte wohl schon von mir gehört, also tat er das, was seiner Ansicht nach notwendig war: Er verprügelte mich fast jeden Tag. Irgendwann lief ich davon, aber man fasste mich und schickte mich nach Italien. Und von dort gelangte ich irgendwann nach Outremer.«
    »Outremer?«
    »Das Land jenseits des Meeres«, übersetzte Rowan. »Die Ordensritter nennen es so.«
    Cassandra nickte, für einen Augenblick schienen ihre Züge seltsam entrückt, als würde sie das Wort an etwas erinnern.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er.
    Sie nickte. »Es war nur, für einen Moment …«
    »Ja?«
    »Nicht wichtig.« Sie schüttelte den Kopf. »Was ist danach geschehen?«
    »Was wohl?« Rowan rang sich ein gequältes Grinsen ab. »Es ging so weiter wie vorher. In der Ordensniederlassung von Ascalon ließ man mich nur die niedersten Arbeiten verrichten in der Hoffnung, ich würde mich bessern. Aber ich schaffte es trotzdem, immer wieder in den carcer zu wandern. Dort fand mich Bruder Cuthbert. Anfangs dachte ich, er wäre genau wie all die anderen, aber er versuchte gar nicht erst, mich zu bessern – und ich hatte plötzlich nicht mehr das Gefühl, ihn oder mich oder sonst irgendjemanden bestrafen zu müssen. Dann traf ich dich, und zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl …«
    »Was?«, hakte sie nach, als er zögerte.
    Er überlegte, ob er aussprechen sollte, was er empfand – als er plötzlich sah, wie sich ihre Augen in stillem Schrecken weiteten.
    »Cassandra?«
    Sie antwortete nicht, aber das Entsetzen griff von ihren Augen auf ihr ganzes Gesicht über, ihre Züge verzerrten sich in schierer Panik.
    »Cassandra«, hauchte Rowan erschrocken, »was …?«
    »Gefahr«, flüsterte sie. »Ich habe es im Traum gesehen. Zwei Lämmer am Feuer, während der Hirte in der Ferne wacht …«
    Rowan begriff sofort.
    Sein Blick huschte zum Hügel hinauf, wo Bruder Cuthbert Posten bezogen hatte – und erschrocken stellte er fest, dass der alte Mönch nicht mehr da war!
    Rowan schoss in die Höhe, gleichzeitig griff er nach seinem Stock, der neben ihm im Boden steckte. Er kam nicht mehr dazu, nach seinem Meister zu rufen, denn in diesem Moment erkannte er die dunklen, vermummten Gestalten, die sich jenseits des Feuerscheins

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