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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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brauchten.
    »Vor langer Zeit«, fuhr er fort, »habe ich dort gelebt, in einer Burg hoch über den Felsen der Küste. Ich hatte dort eine Familie. Eine Frau, die mich liebte. Kinder.«
    Er verstummte, wartete ab wie ein Arzt, der seine Finger auf eine vernarbte Wunde legte, um zu prüfen, ob sie noch schmerzte. Doch zu seiner eigenen Verblüffung hielt sich der Schmerz in Grenzen. Da war Wehmut, sicher. Auch Trauer. Aber jener lähmende, alles überwältigende und seinen Verstand fast verzehrende Schmerz, den er über Jahre gespürt hatte, empfand er nicht mehr. Und ihm war klar, dass dies das Verdienst des Mädchens war.
    Was auch immer es getan hatte, es hatte dafür gesorgt, dass der Schmerz nachgelassen hatte. Wie, beim Mantel des heiligen Martinus, war das möglich? Vielleicht hatte Gaumardas ja recht gehabt, und das Kind war tatsächlich eine Zauberin.Und wenn? Kathan war es inzwischen gleichgültig. Und das verblüffte ihn nicht weniger.
    Sie schien sich ein wenig beruhigt zu haben. Ihre Augenlider waren halb geschlossen, und sie atmete ruhiger als zuvor. Kathan strich ihr über das schweißnasse Haar, und vorsichtig wagten sich seine Gedanken noch ein Stück weiter.
    »Als junger Mann zog ich in den Krieg. Ich verließ die Burg meiner Familie und folgte dem König von Frankreich in das Land jenseits des Meeres, um gegen die Heiden zu kämpfen. Doch der Feldzug war erfolglos, und so kehrte ich vier Jahre später als geschlagener Mann zurück, um im Kreis meiner Familie Frieden zu finden. Doch Friede«, fügte er leiser hinzu, »war mir nicht vergönnt.«
    Ihr Atem war gleichmäßig geworden, offenbar war sie eingeschlafen. Mit einem Stück Stoff, das er mit frischem Wasser befeuchtete, wischte Kathan ihr den Schweiß von der Stirn.
    »Als ich zurückkehrte«, fuhr er in seinem Bericht fort, »war zunächst alles wie früher. Bis die Seuche kam. Einen nach dem anderen raffte sie dahin. Zuerst mein geliebtes Weib. Dann meine Kinder. Von weit her ließ ich einen medicus kommen, der ihnen jedoch nicht helfen konnte. Er sagte, die Seuche stamme aus dem Morgenland und er hätte kein Mittel dagegen. Weißt du, was das bedeutet? Niemand anders als ich selbst war es, der meinen Liebsten den Tod gebracht hat. Einer nach dem anderen musste diese Welt verlassen, während ich selbst unversehrt und am Leben blieb.«
    Abermals verstummte er und hatte das Gefühl, als würden die Worte noch immer im düsteren Halbdunkel der Höhle schweben. Seit dem Tag, da er dem Orden der armen Ritterschaft Christi beigetreten war, hatte er sie nicht mehr ausgesprochen. Tief in seinem Herzen hatte er sie vergraben, ohne jemals über das hinwegzukommen, was damals geschehen war. Bis zu diesem Augenblick.
    Kathan konnte es selbst kaum glauben, aber es tat gut, über die Ereignisse von damals zu sprechen: Es war ein Gefühl der inneren Reinigung wie nach einer Beichte – auch wenn es keine Absolution geben konnte.
    »Um Buße zu tun für die Schuld, die ich auf mich geladen hatte, trat ich dem Orden der Templer bei und kehrte zurück ins Heilige Land, um die Heiden zu bekämpfen. Mein eigenes Leben galt mir nichts mehr. Ich scheute keinen Kampf und nahm an vielen Feldzügen und Eroberungen teil, tötete unzählige Diener Mohammeds, ohne dabei jemals Vergebung oder auch nur Vergessen zu finden. Als König Amalric gegen Damietta zog, befürchtete der Großmeister unseres Ordens einen Fehlschlag und verweigerte die Teilnahme. Lediglich eine kleine Abteilung von zehn Tempelrittern wurde ausgesandt, um von der Belagerung zu berichten. Doch aufgrund der vielen Siege, die sie errungen hatten, waren die Tempelherren ebenso hochmütig wie unvorsichtig, und so gerieten sie in einen Hinterhalt der Sarazenen. Da sie das Kreuz auf ihren Röcken trugen, wurden sie nicht gegen Lösegeld freigelassen, sondern in den Kerker von Damietta verschleppt, wo sie in Ketten gelegt und der Qual der Folter ausgesetzt und über die Geheimnisse des Ordens befragt wurden. Tag für Tag. Nacht für …«
    Kathans Stimme versagte. Übelkeit stieg in ihm empor bei der Erinnerung an die dunklen Gewölbe, die erfüllt gewesen waren von den Schreien der Gefolterten und dem beißenden Gestank von Schweiß und Exkrementen. Aber er wollte es zu Ende bringen, wollte berichten, was geschehen war – nicht um des Mädchens willen, das inzwischen tief und fest schlief, sondern um sich selbst klarzumachen, wie es so weit hatte kommen können.
    »Immer wieder holten sie die Templer aus

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