Das verschollene Reich
überlassen?«
»Das hast du«, räumte Kathan ein. »Du bist schon immer ein kaltblütiger Mistkerl gewesen.«
»Und das sagst ausgerechnet du?«, erwiderte Mercadier, mehr an das Kind als an Kathan gewandt. »Hast du nicht Pater Edwin getötet? Den einzigen Menschen, den dieses Kind auf Erden hatte?«
Kathan merkte, wie ein Ruck durch das Mädchen fuhr. Es schüttelte den Kopf, ohne ein Wort zu sagen – aber Kathan merkte, wie sich der Blick des Kindes entfremdete.
»I-ich hatte keine Wahl«, versicherte er stammelnd. »Er kam auf mich zu, ich …«
Das Kind schüttelte weiter den Kopf, wollte offenkundig nicht hören, was er sagte. Doch die Verwirrung, die sich wie ein dunkler Schatten über sein Gesicht legte, verriet, dass es begriffen hatte.
»Es tut mir leid«, hauchte er.
»Das sollte es«, knurrte Mercadier, während er sich hinabbeugte, das Kind am Arm packte und es in die Höhe riss. Es wehrte sich nicht einmal, während es weiter auf Kathan starrte, unfähig, auch nur ein Wort zu sprechen. Mercadier übergab das Kind an einen seiner Männer, der es sich über die Schulter lud und davontrug wie ein Stück Holz.
»Es tut mir leid!«, rief Kathan hinterher, und dann, noch einmal, so laut, dass sich seine versagende Stimme überschlug. »Es tut mir leid!«
»Was ist nur aus dir geworden, Bruder?«, beschied Mercadier ihm von oben herab. »Du solltest dich sehen. Fürwahr ein erbärmlicher Anblick. Alles hätte gut sein können, du hättest dein altes Leben zurückbekommen können – aber du hast alles weggeworfen!«
Kathan schaute seinen einstigen Waffenbruder an, sah die Häme in seinem Gesicht. »Scher dich zum Teufel«, zischte er.
»Ich wohl kaum. Aber du wirst dich in der Hölle finden nach allem, was du getan hast. Mord, Befehlsverweigerung, Ungehorsam, Häresie. Von allem war etwas dabei, Kathan. Das ist mehr, als irgendjemand auf Erden dir vergeben kann.«
»Das ist mir gleichgültig«, stieß Kathan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Alles, was zählt, ist das Mädchen. Versprich mir, dass du dich um sie kümmerst.«
»Das brauche ich nicht zu tun – der Meister praeceptor wird das für mich übernehmen.«
»Aber«, ächzte Kathan hilflos, während er merkte, wie sein Bewusstsein zu schwanken begann wie ein Schilfblatt im Wind, »dann war alles vergeblich …«
»Das war es von Beginn an«, konterte Mercadier. »Ich hatte dir gesagt, dass ich die Schuld irgendwann bei dir einfordern würde. Aber selbst ich hätte nicht gedacht, dass es so bald sein würde. Leb wohl, Kathan.« Er wandte sich ab und ging, und schon nach wenigen Schritten konnte Kathans sich eintrübender Blick seine weiße Gestalt nicht mehr vom Schnee unterscheiden.
»Mercadier!«, brüllte er aus Leibeskräften. »Lass mich nicht so liegen! Mercadier!«
Er bekam keine Antwort.
»Mercadier!«
Der einstige Waffenbruder antwortete auch diesmal nicht, dafür erklang der gellende Schrei des Kindes.
»Kathan! Kathan!«
Er wollte ihren Namen rufen, aber er kannte ihn nicht, also schrie er einfach nur, bis ihm die Stimme versagte. In einem letzten Augenblick der Klarheit sah er, wie das Kind, das sich nun heftig wehrte, davongetragen und auf ein Pferd gesetzt wurde.
Dann senkte sich der Schleier aus Blut herab, und es wurde dunkel.
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18
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»Wir führen diese Völker nach Belieben gegen unsere Feinde, und kein Mensch, kein Tier wird vom Aufgefressenwerden verschont, wenn unsere Majestät einmal die Erlaubnis dazu gegeben hat.«
Brief des Johannes Presbyter, 71 – 74
Ausläufer des Zagrosgebirges
Morgen des 1. Mai 1187
»Bien …«
Blacwin hatte den Mantel zurückgeschlagen und das Schwert gezückt, die Spitze der Klinge deutete auf Rowan und Cassandra. »Nachdem Ihr uns offenbar durchschaut habt, ist es wohl sinnlos, sich noch länger zu verstellen. Berichtet uns also, was Ihr herausgefunden habt, oder Ihr werdet diesen Stahl
spüren.«
»Was wir herausgefunden haben?« Rowans Stirn verfinsterte sich. »Worüber?«
»Über das Reich Johannis«, erklärte der als Kaufmann getarnte Tempelritter – und Rowan fiel es wie Schuppen von den Augen.
»Ich verstehe«, schnaubte er. »Die Königin hat Euch geschickt. Obwohl Bruder Cuthbert es sich verbeten hatte …«
»Du verstehst nichts, gar nichts. Aber das tut nichts zur Sache. Wir sind euch gefolgt, von Anfang an. Wir haben alles gesehen und wissen, welche Wege ihr eingeschlagen habt – so wie wir wissen, was dich mit dieser Hexe da
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