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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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sammelt, hat Jerusalem offenbar erreicht. Und sie zeigt Wirkung.«
    »In der Tat.« Raymond nickte. Ihm war klar, dass er eigentlich über diese Entwicklung der Dinge hätte triumphieren müssen. Resignierend sank er auf den samtbezogenen Stuhl.
    »Wie es aussieht«, stellte der Berater genüsslich fest, »ist der König nicht so stark, wie er stets behauptet hat. Dabei hätte er nur die Forderungen zu erfüllen, die Saladin gestellt hat.«
    »Saladins Forderungen zu erfüllen hätte bedeutet, einen Gefolgsmann auszuliefern. Einen christlichen Ritter der Gerichtsbarkeit der Heiden zu übergeben.«
    »Einen christlichen Ritter, der sich als Räuber und Mörder betätigt hat«, gab der sadîq zu bedenken. »Es ist ein offenes Geheimnis, dass es Raynald de Chatillon gewesen ist, der die Karawane überfallen und damit Saladins Zorn auf sich gezogen hat: der engste Freund des Königs und Euer erklärter Feind!«
    »Dennoch ist er ein Edler des Reiches«, beharrte Raymond.
    »Ihr sagt das fast, als ob Ihr Verständnis für Guys Starrsinn hättet. Mehr noch, als ob Ihr Euren Entschluss bereuen würdet.«
    Raymond hielt das Pergament hoch. »Dieser Brief ändert manches«, erklärte er.
    »Ich verstehe.« Der von Saladin geschickte Berater nickte. »Darauf habt Ihr die ganze Zeit gewartet, nicht wahr? Auf ein Zeichen, dass der König seinen Starrsinn bereuen und Euch entgegenkommen würde. Ihr hattet immer vor, eines Tages nach Jerusalem zurückzukehren, und habt auf eine Gelegenheit gewartet, dies auf ehrenvolle Weise zu tun. Als sich diese Gelegenheit nicht bot, habt Ihr Euch der Gegenseite zugewandt. Und nun, da Guy de Lusignan Euch seine Freundschaft bietet, zweifelt Ihr an Eurem Entschluss.«
    Der Graf von Tripolis mied den forschenden Blick, mit dem der sadîq ihn bedachte. Stattdessen starrte er auf den Wandbehang, der Szenen einer Löwenjagd zeigte. Raymond konnte nicht anders, als mit dem stolzen Tier zu fühlen, das von den Jägern umzingelt worden war und sich von allen Seiten bedrängt auf seinen letzten Kampf vorbereitete.
    »Ich bedaure, dass Ihr es so seht«, stellte der Berater fest, »denn ich würde Euch ungern daran erinnern, dass Ihr eine Absprache getroffen habt. Ihr habt Saladins Gesandtschaft empfangen, und ihr habt dem Sultan zugesagt, dass seine Truppen unbehelligt durch Eure Grafschaft marschieren dürfen.«
    »Nach Jerusalem«, ergänzte Raymond heiser.
    »Wohin sonst? Mein Herr hat nie ein Hehl aus seinen Absichten gemacht, sondern ist Euch stets offen begegnet. Und ist es nicht das, was Ihr wolltet? Hat es Euch nicht nach Rache verlangt? Nach Vergeltung für die Erniedrigung, die Guy de Lusignan und seine Gemahlin Euch haben zukommen lassen?«
    »Nicht zum Preis des Untergangs.«
    »Jerusalem wird nicht untergehen. Die Stadt hatte schon viele Herren, und sie hat sie alle überstanden. Sultan Saladin weiß, wer seine Verbündeten sind, und er wird sie im Augenblick des Triumphs nicht vergessen. Er hat versprochen, dass er sich für Eure Hilfe erkenntlich zeigen wird, und Ihr habt keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.«
    »Ich zweifle nicht an Saladins Worten«, schränkte Raymond seufzend ein, »sondern an mir. Was, wenn ich vorschnell und falsch entschieden habe? Kann ich damit leben, unter meinesgleichen als Verräter zu gelten?«
    »Ihr habt getan, was nötig war, um Euer Überleben zu sichern«, erwiderte der sadîq . »Einen Verräter werden Euch allenfalls die Unterlegenen nennen. Die Sieger hingegen werden Euch als Bruder in ihrer Mitte willkommen heißen.«
    »Als Bruder?« Raymond lachte freudlos auf. »Wohl eher als Vasall.«
    »Auch dann wäre es immer noch besser, der Vasall eines Siegers zu sein als der eines Verlierers.«
    Erneut wandte der Graf von Tripolis den Blick, sah seinem Berater diesmal direkt in die Augen.
    »Ich will hoffen, Ihr habt recht, Mercadier«, flüsterte er. »Ich will hoffen, Ihr habt recht.«

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20
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    »Sind aber unsere Feinde alle vernichtet, so führen wir die Unseren in ihre Heimat zurück. Und nur deshalb führen wir sie persönlich zurück, weil sonst alle Menschen und Tiere von ihnen gefressen würden.«
    Brief des Johannes Presbyter 74 – 77
    Ausläufer des Zagrosgebirges
1. Mai 1187
    Um die Kälte und die Schrecken der vergangenen Nacht aus ihren Knochen zu vertreiben, hatte Rowan ein Feuer entfacht. Dort saßen sie, am Boden kauernd wie Kinder, und aßen Dörrfleisch, das ihnen ihr geheimnisvoller Retter gegeben hatte.
    Noch immer konnte

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