Das verschollene Reich
Gesicht.
»Trotzdem«, beharrte Rowan, der sich einfach nicht beruhigen wollte. Nach all den Dingen, die sie zusammen getan, nach der Zweisamkeit, die sie gemeinsam erlebt hatten, kam es ihm wie Verrat vor, dass sie ihm dies verschwiegen hatte. »Du hättest es mir sagen müssen!«
»Warum?« Cassandra schaute auf. »Hättest du es denn wissen wollen? Glaubst du, ich wüsste nicht, wie deinesgleichen Frauen wie mich nennen? Wie man uns behandelt?«
Rowan wusste nicht, was er erwidern sollte. Er hatte oft genug am eigenen Leib erlebt, wie es sich anfühlte, ausgestoßen zu sein. Womöglich, dachte er, war ihre besondere Gabe der Grund dafür, dass man Cassandra auf jener Oase aufgefunden hatte, ganz allein und ohne Erinnerung.
»Was hast du noch gesehen?«, wollte er wissen.
»Ich weiß es nicht«, gestand sie leise. »Aber es wird immer schlimmer. Ich sehe Bilder von Krieg und Tod. Und ich habe Angst, dass sich das, was ich sehe, bewahrheiten könnte.«
Sie sah ihn aus tränengeröteten Augen an, und seine Wut verpuffte fast augenblicklich. Er schalt sich einen Narren dafür, dass er sie angeherrscht hatte, trat auf sie zu und schloss sie fest in die Arme. Eine ganze Weile standen sie so, sich aneinanderklammernd wie zwei Schiffbrüchige im tosenden Sturm.
»Lass uns aufbrechen«, sagte Rowan dann. »Bis zum Einbruch der Dunkelheit müssen wir von hier verschwunden sein.«
»Ja«, stimmte sie zu, während sie sich langsam, fast widerstrebend aus seiner Umarmung löste. »Du musst dich rasch in Sicherheit bringen. Unheil naht, ich kann es fühlen.«
»Wir werden uns eine sichere Zuflucht für die Nacht suchen«, versprach er, »und morgen mit der Suche nach Bruder Cuthbert beginnen.«
»Du willst tatsächlich nach ihm suchen?« Cassandras Augenspiel war unmöglich zu deuten.
»Er ist mein Meister, und ich bin sein Diener«, stellte Rowan klar. »Ich habe keine andere Wahl.«
»Natürlich hast du die Wahl.« Sie streckte die Arme aus und nahm sein Gesicht in ihre zarten Hände, sah ihn dabei beschwörend an. »So wie all die anderen Male! Du bist dein eigener Herr, Rowan! Du kannst tun und lassen, was du willst!«
»Das habe ich mir eingeredet, all die Jahre«, stimmte er zu, »deshalb habe ich mich vor der Arbeit gedrückt und bin vor der Verantwortung davongelaufen. Nicht, weil ich frei gewesen wäre, sondern weil ich feige und voller Selbstmitleid war. Wenn ich nun nach Bruder Cuthbert suche, dann nicht, weil mich jemand dazu zwingt, sondern aus eigenem Willen. Das ist Freiheit.«
»Aber Cuthbert könnte längst tot sein«, beschwor sie ihn weiter. »Du könntest fliehen und irgendwo ein neues Leben beginnen, fernab von allen Klöstern und von …« Sie verstummte, als sie sah, dass ihre Worte wirkungslos an ihm abprallten.
»Ich kann nicht«, erklärte er. Er nahm ihre Hände aus seinem Gesicht, hielt sie jedoch fest in seinen.
»Wieso nicht? Um eines Gelübdes willen, das man dir aufgezwungen hat? Für eine Königin, die dich längst vergessen hat?«
»Für Cuthbert«, stellte Rowan klar. »Er ist der Einzige, der je an mich geglaubt hat. Und ich möchte ihm beweisen, dass er damit recht hatte. Durch Bruder Cuthbert durfte ich erfahren, dass ich zu etwas gut bin, nun möchte ich einmal in meinem Leben etwas richtig machen, kannst du das nicht verstehen?«
Sie schaute ihn lange und durchdringend an. »Doch«, erwiderte sie traurig, »ich verstehe es.«
»Cassandra, ich …«
Sie winkte ab. »Ich verstehe es.«
»Ist es deshalb, weil … weil du etwas gesehen hast?«, erkundigte er sich leise. »Weißt du, was mit Bruder Cuthbert geschehen ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder – was mit mir geschehen wird?«, fügte er noch vorsichtiger hinzu.
Ihr Blick blieb unverwandt auf ihn gerichtet, erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Nein«, sagte sie.
»Dann werde ich morgen aufbrechen. Solange auch nur die geringste Aussicht besteht, dass Bruder Cuthbert noch am Leben ist, muss ich ihn suchen. Willst du mir dabei helfen?«
Ihr Zögern währte nur einen Augenblick. »Wohin sollte ich sonst gehen?«, fragte sie dann.
----
23
----
»Wenn wir behaupten, ohne Schuld zu sein,
betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit
kann in uns nicht wirken.«
Erster Brief des Johannes, 1,8
Steppe östlich von Djabal Hamrin
Mai 1187
Eine einsame Gestalt bewegte sich von Osten kommend auf den Höhenzug des Djabal Hamrin zu, dessen Hänge aus der Steppe wuchsen wie der Buckel eines riesigen
Weitere Kostenlose Bücher