Das verschollene Reich
um Saladin zurückzuschlagen. Wo war nun die Stärke, mit der sich Ridefort gebrüstet hatte, wo seine vielgepriesenen Templer, nun, da der Sultan mit großer Heeresmacht nahte?
»Haben wir inzwischen Nachricht von Raymond erhalten?«, wandte sich Guy gehetzt an Raynald de Chatillon.
»Nein, Herr.« Der Graf von Antiochia schüttelte den Kopf. »Und ich bezweifle, dass wir Antwort erhalten werden. Raymond ist so falsch und verschlagen, wie er es immer gewesen ist. Das Schicksal von Jerusalem ist ihm gleichgültig geworden. Außerdem …«
»Was?«, hakte Guy nach, als sich die narbigen Züge seines Vertrauten verfinsterten.
»Wenn sich Saladins Vorhut bereits auf unserem Territorium befindet, so bedeutet dies, dass sie geradewegs durch das Hochland von Galiläa marschiert ist. Und Galiläa …«
»… ist Raymonds Gebiet«, ergänzte Guy atemlos.
»Saladin mag ein elender Heide sein, aber er ist auch ein kluger Stratege. Er wird nicht riskieren, dass sein Heer bereits während des Marsches in überflüssige Kämpfe verwickelt und geschwächt wird, wenn das eigentliche Ziel seines Angriffs Jerusalem ist.«
»Ihr meint – Raymond hat sich mit ihm verbündet?«
»Zweifellos hat er Saladins Truppen freies Geleit zugesichert«, mutmaßte Raynald. »Wir wissen schon seit Längerem, dass er mit den Muselmanen in Verbindung steht.«
Guy sank auf seinen Thron zurück. Mit zitternden Händen griff er nach den Armlehnen und krallte sich daran fest, während er fieberhaft überlegte. Die Zahl derer, die zur Verteidigung seiner Herrschaft bereitstanden, schwand von Augenblick zu Augenblick.
Zuerst war es Sibyllas Plan gewesen, in den er seine Hoffnung gesetzt hatte, doch nach dem Verrat des Mönches Cuthbert hatte diese sich zerschlagen; dann hatte er auf die Unterstützung seiner Vasallen vertraut und auf die Stärke der Templer, doch auch sie hatten eine Niederlage erlitten; und nun sollte sich auch noch die letzte Aussicht, im Kampf um Jerusalem einen Verbündeten zu gewinnen, in Luft aufgelöst haben?
Nein!
»Saladins Truppen passieren zu lassen bedeutet noch nicht, sich mit ihm zu verbünden«, stellte er fest.
»Herr!«, empörte sich Raynald. »Das kann unmöglich Euer Ernst sein!«
»In der Vergangenheit haben viele Edle des Reiches Pakte mit den Sarazenen geschlossen, wenn es ihren Zielen nützlich war. Auch Ihr, mein Freund.«
»Ich habe die Muselmanen gegeneinander ausgespielt, das ist wahr«, gab Raynald zu. »Jedoch ist es dabei niemals gegen einen christlichen Fürsten gegangen, geschweige denn gegen
Jerusalem! Raymond ist ein Verräter, warum wollt Ihr das nicht wahrhaben? Steckt etwa Euer Weib dahinter? Hat sie Euch mit ihren Reizen so umgarnt, dass Ihr Euren Willen nicht mehr von ihrem unterscheiden könnt?«
Einen atemlosen Augenblick lang saß Guy de Lusignan unbewegt auf dem Thron – dann, in einem Ausbruch, den Raynald ihm wohl nicht zugetraut hatte, sprang er auf, riss das Schwert aus der Scheide und holte aus, um damit vom Thronpodest herab auf seinen Vertrauten einzuschlagen.
Raynald blieb ungerührt stehen.
Weder wich er zurück noch machte er Anstalten, sich zu verteidigen, sah seinen König nur durchdringend an – und Guy beherrschte sich und hielt den tödlichen Stoß zurück.
»Ihr könnt von Glück sagen«, stieß er zornbebend hervor, »dass außer mir niemand hier ist, der Eure Worte gehört hat. Andernfalls müsstet Ihr Euch wegen Hochverrats verantworten.«
»Und Ihr, Herr«, erklärte Raynald leise, aber nicht weniger bestimmt, »solltet froh darüber sein, dass es jemanden gibt, der sich nicht scheut, Euch die Wahrheit zu sagen.«
Es war totenstill geworden im Thronsaal.
Wortlos standen die beiden Männer einander gegenüber, dann ließ Guy langsam das Schwert sinken.
»Der Grund, warum ich dieses Bündnis will«, erklärte er schließlich, »ist nicht, dass ich meine Augen vor der Wahrheit verschließe oder mir plötzlich Raymonds Freundschaft wünsche. Ich will dieses Bündnis, weil ich erkannt habe, dass nur unbedingter Zusammenhalt uns retten kann. Was wollt Ihr jenen dreißigtausend Kriegern entgegenstellen, die Saladin gegen uns aufgeboten hat? Mit Mut und großen Worten allein wird ihnen nicht beizukommen sein, deshalb brauchen wir die Unterstützung der Grafschaft Tripolis und ihrer Verbündeten, oder unsere Tage in Jerusalem sind gezählt. Wir waren ehrgeizig, mein Freund, und haben viel erreicht. Doch nun ist der Zeitpunkt gekommen, da wir Hilfe brauchen,
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