Das verschollene Reich
sein Pferd wenden, um sich wieder hinter den Schutz des Hügelgrates zurückzuziehen, als die Büsche und Sträucher auf der anderen Seite des Djabal plötzlich zum Leben erwachten: Dutzende von Männern, die mit Kettenhemden gepanzert waren und lederne, mit Turbanen umwickelte Kappen trugen, sprangen aus ihren Verstecken und umringten ihn, Armbrüste im Anschlag, auf denen schussbereite majra lagen, kurze Pfeile mit verheerender Durchschlagskraft.
Der Ritter stieß eine Verwünschung aus. Er zählte mehr als zwanzig von ihnen, und ihm war klar, dass er keine Chance hatte. Der Kampf würde vorüber sein, noch ehe er richtig begonnen hatte. Dennoch war er nicht gewillt, sich den Heiden zu ergeben.
Mit einem heiseren Kampfschrei wollte er seinem Pferd die Sporen geben und sich auf die Orientalen stürzen, als sich die Ereignisse überschlugen. Der Araberhengst, aufgeschreckt von der Unruhe seines Reiters und den verwirrenden Eindrücken, die plötzlich auf ihn einstürzten, verweigerte den Gehorsam. Wiehernd stieg er auf – und die beiden Armbrustbolzen, die von den Sehnen geschnellt waren und dem Reiter gegolten hatten, trafen das stolze Tier in die Brust.
Es ging so schnell, dass der Ritter kaum begriff, was geschah. Sein Reittier war tot, noch ehe es auf dem Boden auftraf. Er selbst flog aus dem Sattel und schlug hart gegen einen Felsen. Seine Kettenhaube vermochte den Aufprall ein wenig zu mildern, der Schmerz war dennoch überwältigend.
In greller Pein flammte das Bewusstsein des Ritters noch einmal auf, ein Funke Licht in finsterer Nacht.
Dann erlosch es.
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24
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»Denn sie säen Wind und werden Sturm ernten.«
Hosea 8,7
Königspalast von Jerusalem
Zur selben Zeit
»Was?«
Die heisere Stimme Guy de Lusignans hallte von der hohen Decke wider. Der König von Jerusalem saß wie versteinert auf seinem Thron. Seine Züge waren so weiß wie die gekalkte Wand, die tief liegenden Augen starrten in unverhohlener Panik.
»Wir wurden geschlagen«, wiederholte Gérard de Ridefort die schlechte Nachricht. Gesenkten Hauptes stand der Großmeister des Templerordens vor dem Thron. Seine Robe war zerschlissen und blutbesudelt, seine Züge totenbleich, und seine Augen erweckten den Eindruck, als hätten sie in den tiefsten Höllenpfuhl geblickt. »Eurem Befehl gemäß hatten wir die Boten nach Tiberias geleitet, als wir von einer Streitmacht Saladins erfuhren, die die Grenze angeblich bereits überschritten hatte. In aller Eile stellte ich eine Streitmacht zusammen, und es gelang uns, sie zu stellen, doch am Fluss Cresson gerieten wir in einen Hinterhalt. Nur wenige von uns überlebten. Über hundert christliche Streiter fanden den Tod, das Fußvolk wurde niedergemacht bis zum letzten Mann. Und Saladins Heer ist weiter auf dem Vormarsch.«
»Und das sagt Ihr mir ins Gesicht?« Guy spie ihm die Worte entgegen, fand endlich zu dem Selbstverständnis, das seiner Position entsprach, wenn auch nicht aus Stärke, sondern aus Furcht und schierer Verzweiflung, die wie eine verdorbene Speise aus seinem Magen emporkroch und ihm Übelkeit verursachte. Hilfe suchend, fast sehnsüchtig blickte er nach dem Thron der Königin, doch Sibylla war nicht hier, um ihm mit ihrem Rat beizustehen. Nur Raynald de Chatillon war anwesend, der wie immer am Fuß des Thronpodests wachte und in sich zu ruhen schien, gerade so, als ginge ihn das alles nichts an.
»Verzeiht, mein König.« In seltener Demut senkte Gérard de Ridefort das Haupt noch tiefer. »Ich versichere Euch, dass mich diese schändliche Niederlage ebenso schwer trifft wie Euch und dass ich alles daransetzen würde, sie ungeschehen …«
»Als ob Ihr das könntet!« Guy schrie so laut, dass ihm die Stimme brach. »Einhundert Ritter! Verloren! Wo war Eure Kampfkraft, die Ihr stets über alles gepriesen habt? Wo die berühmte Tapferkeit Eurer Waffenbrüder? Habt Ihr nicht behauptet, dass wir keiner Hilfe bedürften, um uns Saladins Angriff zu erwehren?«
»Mein König, ich …«
»Aus meinen Augen!«
»Herr, ich …«, setzte der Großmeister zu einer Verteidigung an, was Guy jedoch nur noch mehr in Rage brachte.
»Geht!«, herrschte er ihn an, worauf sich das mächtige Oberhaupt des Templerordens eingeschüchtert zurückzog. Am ganzen Körper bebend, sah der König ihm nach, kam sich verraten vor und im Stich gelassen.
Er hatte nie zu denen gehört, die zum Krieg gedrängt hatten, war nie der Ansicht gewesen, dass seine Kampfkraft stark und groß genug sein würde,
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