Das verschollene Reich
die sie zu ihrem Lagerplatz erkoren hatten – doch der schwarze Ritter war fort.
»Herr?«, fragte Rowan vorsichtig, doch er erhielt keine Antwort. So plötzlich, wie der geheimnisvolle schwarze Kämpe aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Wie ein Schemen, den man nicht greifen konnte. Wie ein Sendbote des Himmels, der zu ihrem Schutz geschickt worden war.
Fast hätte man glauben können, alles wäre nur Einbildung gewesen, wären da nicht die drei Dromedare gewesen, die auf der Lichtung angepflockt standen, dazu zwei Sättel und Säcke mit Proviant.
Ein Blick zum bewölkten Himmel, wo es bereits zu dunkeln begann, sagte Rowan, dass sie sich beeilen mussten. Er beugte sich zu Cassandra hinab, die ebenfalls eingeschlafen war, und weckte sie. Dann ging er daran, die Tiere zu satteln. Wenn die Dunkelheit kam, wollte er ein möglichst großes Stück zwischen sich und die Lichtung gebracht haben für den Fall, dass die geheimnisvollen Schattenkrieger zurückkehrten.
Wer waren sie?
Ohne Unterlass musste Rowan an das denken, was der schwarze Ritter gesagt hatte. Dass jene unheimlichen Krieger keine Gesichter hatten, dass sie sich wie Schatten bewegten und ruchlos töteten. Rowan hatte sie mit eigenen Augen gesehen, ihnen selbst im Kampf gegenübergestanden, auch wenn es ihm rückblickend wie ein böser Traum erschien. Dass Farids düstere Warnungen zutreffend gewesen waren, dass die Existenz der Schattenkrieger ein Hinweis darauf sein mochte, dass das sagenumwobene Reich des Priesterkönigs tatsächlich existierte, daran verschwendete Rowan keinen Gedanken. Natürlich wäre er gerne geflohen, hätte dieses dunkle Land am liebsten augenblicklich verlassen, aber eine innere Stimme hielt ihn davon ab.
Er konnte nicht gehen. Noch nicht.
Cassandra war ebenfalls aufgestanden und hatte ihre Decke zusammengerollt. Wortlos half sie ihm dabei, das Packtier mit den Proviantsäcken zu beladen. Rowan beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie hatte sich verändert. Ihr Haar war in Unordnung, ihr Mantel zerschlissen und ihre zarte Haut von Kratzern übersät, aber das allein war es nicht. Auch in ihrer Miene glaubte Rowan eine Veränderung wahrzunehmen, selbst wenn er sie nicht genau benennen konnte. Weder war es Furcht noch Erschöpfung, die er in ihren Zügen las, auch keine Freude darüber, dass sie trotz aller Fährnisse noch am Leben waren.
Schon viel eher war es … Wissen.
»Darf ich dich etwas fragen?«, erkundigte er sich vorsichtig.
Statt etwas zu erwidern, nickte sie nur. Überhaupt sprach sie wenig seit vergangener Nacht.
»Woher wusstest du, dass Blacwin und seine Leute Templer waren?«
»Ich habe das Kreuz gesehen«, erwiderte sie, als würde das alles erklären.
»Das sagtest du schon.« Er nickte. »Die Sache ist nur, dass ich nirgendwo ein Kreuz gesehen habe: weder auf ihren Kleidern noch an ihren Waffen.«
»Du würdest nicht so fragen, wenn du nicht bereits eine Vermutung hättest …«
»Die habe ich allerdings«, versicherte Rowan. »Ich denke, dass du dieses Kreuz in einem deiner Träume gesehen hast. Habe ich recht?«
Erneut blieb sie eine Erwiderung schuldig. Rowan war das Antwort genug. »Du siehst in deinen Träumen ferne Orte«, spann er seinen Gedanken weiter, »aber nicht deshalb, weil du schon einmal dort gewesen bist, sondern weil du in der Lage bist, Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben. Du bist …«, er senkte die Stimme und bekreuzigte sich unwillkürlich, während er das kaum Denkbare aussprach: »… eine Seherin.«
Sie schaute ihn an, Bedauern stand in ihren Zügen zu lesen. »Warum sagst du so etwas?«, fragte sie. »Ich kann sehen, wie es dich ängstigt.«
»Weil es die Wahrheit ist. Bruder Cuthbert hatte sich geirrt. Er glaubte, dass du in deinen Träumen die Vergangenheit siehst, aber in Wahrheit ist es die Zukunft, nicht wahr?«
»Manchmal die Zukunft, manchmal auch die Gegenwart. Oder die Vergangenheit.« Sie schüttelte den Kopf. »Weder kann ich beeinflussen, wovon ich träume, noch weiß ich, was diese Träume bedeuten. Ich sehe Bilder, Nacht für Nacht, solange ich zurückdenken kann. Manchmal bewahrheiten sie sich, manchmal nicht, es gibt keine Regel dafür.«
»Aber die Templer hast du gesehen, oder?«, fragte Rowan und konnte nicht verhindern, dass er wütend wurde. »Und den Überfall auf das Lager? Hast du den auch vorausgesehen? Hätten wir ihn womöglich verhindern können?«
»Nein.« Sie blickte betreten zu Boden, das rote Haar hing ihr ins
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