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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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schwarzen Ritter.
    Irgendetwas an diesem Mann, der aus dem Nichts aufgetaucht war und ihnen das Leben gerettet hatte, hatte eine so tiefe Faszination auf sie ausgeübt, dass sie nicht aufhören konnte, an ihn zu denken. Sobald ihre Gedanken ihn auch nur streiften, sah sie ihn sogleich vor sich, seine von kurzem grauen Haar umrahmten und von der Augenklappe entstellten Züge, seine hünenhafte Gestalt. Die Erinnerung daran berührte etwas tief in ihr, etwas, das weit in ihre Vergangenheit reichte – und von dem sie nicht sicher war, ob sie es wirklich wissen wollte.
    Was hat das zu bedeuten?
    Kenne ich diesen Ritter? Aus meinen Träumen? Oder aus einem Leben, das es nicht geben durfte…
    Zwei Träume waren es, die sie in den kurzen Nächten seit ihrer Begegnung mit dem Ritter wieder und wieder verfolgten. Weder kannte sie ihre Bedeutung noch wusste sie, ob es zwischen ihnen einen Zusammenhang gab. War es die Vergangenheit, die sie sah? Die Gegenwart eines anderen Ortes? Oder ferne Zukunft?
    Die Beharrlichkeit, mit der die Träume wiederkehrten, erschreckte sie, denn je öfter sich Träume wiederholten, das hatte die Erfahrung sie gelehrt, desto wahrscheinlicher war es, dass sie sich bewahrheiteten.
    In dem einen Traum, aus dem sie schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd zu erwachen pflegte, hörte sie die Schreie eines kleinen Mädchens und sah jemanden am Boden liegen. Sein Gesicht vermochte sie nicht zu sehen, denn er lag von ihr abgewandt, jedoch konnte sie erkennen, dass etwas in seinem Kopf steckte, ein Pfeil von einem Bogen oder einer Armbrust. Und obwohl sie nicht wusste, was diese Bilder zu bedeuten hatten, versetzten sie sie jedes Mal in solche Panik, dass sie unwillkürlich aus dem Schlaf schreckte.
    Im Augenblick des Erwachens, kurz bevor sich die Wirklichkeit ringsum in Form von dunklen Bäumen und grauen Felsen manifestierte, hatte sie stets das Gefühl, der Wahrheit ganz nah zu sein, die Hand nur ausstrecken zu müssen, um sie zu erfahren, doch schon im nächsten Moment war dieser Eindruck verflogen, und die Bilder aus dem Traum waren ihr wieder genauso fremd wie zuvor.
    Und dennoch seltsam vertraut.
    Den anderen Traum hatte sie schon zuvor gehabt. Solange sie zurückdenken konnte, verfolgte er sie, wieder und wieder, doch seit der Begegnung mit dem schwarzen Ritter wiederholte er sich mit verstörender Regelmäßigkeit. Es waren grauenvolle Bilder, Visionen von Tod und Untergang, von Krieg und Zerstörung: einstürzende Mauern und Türme, ein Himmel, der von feuriger Glut erfüllt war, Menschen, die panisch flüchteten, und ein Heer, das unter dem Banner des Halbmonds einherschritt und sich bedrohlich näherte.
    Jerusalem .
    Längst zweifelte sie nicht mehr daran, dass es der Untergang der von Christen bevölkerten Stadt war, den sie in diesen Visionen sah. Menschen, die um vieles älter und gelehrter waren als sie selbst, waren zu diesem Schluss gekommen. Doch wieso kehrte dieser Traum gerade jetzt mit dieser Häufigkeit wieder? Hatte es mit dem finsteren Kämpen zu tun? Oder bedeutete es einfach nur, dass jene schrecklichen Dinge dabei waren, sich zu bewahrheiten? Was es auch war, es jagte ihr Furcht ein.
    Furcht vor einer Zukunft, die ich in meinen Visionen vorausgesehen habe?
    »Cassandra!«
    Rowans Stimme riss sie jäh aus ihren Gedanken. Sie störte sich nicht mehr daran, dass er sie so nannte. Obschon sie den Namen hasste, hörte er sich aus seinem Mund freundlich an, fast liebevoll, in jedem Fall voller Achtung und Respekt. Und das war weit mehr, als sie gewohnt war.
    Er hatte sein Reittier angehalten und brachte es dazu, sich auf die Vorderläufe niederzulassen. Von dem sichtlichen Unbehagen, mit dem er anfangs auf dem Kamel gesessen hatte, war nichts mehr zu bemerken; geschickt ließ er sich aus dem Sattel gleiten und band den Zügel des Packtiers am Sattelknauf fest.
    »Was hast du?«, wollte sie wissen.
    »Warte«, wies er sie an und trat an die Felswand, die am rechten Wegesrand aufragte und von Buschwerk und Schlinggewächsen überwuchert war. Kurzerhand nahm er einen der Stränge und riss daran. »Ich dachte, ich hätte etwas bemerkt, das …«
    Ein wenig befremdet schaute sie zu, wie er eine Ranke herabriss, dann noch eine – und plötzlich, als würde ein Vorhang beiseitegezogen, kam der kahle Fels zum Vorschein. Doch die Linien und Furchen, die das graue Gestein durchzogen, waren nicht natürlichen Ursprungs, sondern stammten von Menschenhand!
    Eines Künstlers Hand hatte vor

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