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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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ihm konnte es inzwischen ganz gut verstehen.
    Was Cassandra betraf, so konnte Rowan sie nur bewundern. Nicht nur, dass die Härte und Zähigkeit, die sie an den Tag legte, jedem in der Askese geübten Mönch zur Ehre gereicht hätte; immer wieder verblüffte sie ihn auch mit Kenntnissen, die er nie erwartet hätte. Woher wusste sie, welche Beeren essbar waren und welche nicht? Wo hatte sie gelernt, jene Kräuterverbände zu machen, mit denen sie ihre Wunden und Blessuren versorgte? Und woher, beim heiligen Laurenz, wusste sie, dass man eine Sorte Heuschrecken essen konnte und eine andere nicht?
    Natürlich hatte Rowan sie all diese Dinge gefragt, aber ihre Antworten waren einsilbig und unbefriedigend gewesen. Offenbar, sagte er sich, kehrte ihre Erinnerung an frühere Zeiten allmählich zurück, aber er wollte sie nicht bedrängen. Er rechnete es ihr hoch an, dass sie sich an der Suche nach Cuthbert beteiligte und ihn nicht gezwungen hatte, zwischen ihnen beiden zu wählen; doch je länger die Suche andauerte und je mehr die Aussichten schwanden, den Bruder noch zu finden, desto mehr bereute er, nicht gleich auf sie gehört und den Weg nach Westen eingeschlagen zu haben, zurück nach Hause. Der Gedanke, diesen Weg zusammen mit Cassandra zu beschreiten, kam ihm das ein oder andere Mal, und er entbehrte nicht einer gewissen Verlockung. Aber zum einen unternahm Cassandra nichts, um ihn in dieser Hinsicht zu ermutigen, zum anderen war ihm klar, dass sie in Palästina nichts zu gewinnen hatte – im Gegenteil.
    Musste der Gedanke, nach Jerusalem zurückzukehren, sie nicht geradezu erschrecken? Lief sie nicht Gefahr, wieder als Sklavin zu enden, wenn sie der Königin unverrichteter Dinge unter die Augen trat? Allein die Vorstellung genügte, um Rowans Blut in Wallung zu bringen, und er schwor sich, alles daranzusetzen, dass es nicht so weit kam – auch wenn es bedeutete, dass sich ihre Wege früher oder später trennen würden.
    Alles, was Rowan blieb und woran er sich halten konnte, war Bruder Cuthbert. Erst der alte Benediktiner hatte ihn gelehrt, dass er zu etwas nütze war und einen Platz im Leben hatte. Ohne ihn würde Rowan wieder ebenso einsam und entwurzelt sein, wie er es zuvor gewesen war, ein Ausgestoßener, umgeben von Menschen, die nur dem Namen nach seine Brüder waren. Vielleicht war das ja der Grund dafür, dass er mit aller Macht nach Cuthbert suchte und seinen alten Meister nicht verloren geben wollte. Womöglich, sagte er sich, ging es dabei nicht so sehr um Cuthberts Wohl als vielmehr um sein eigenes.
    Im Schutz einer breiten Felsspalte, deren Grund mit Gesteinsbrocken und Erdreich gefüllt war, sodass eine enge Schlucht entstanden war, schlugen sie ihr Nachtlager auf, und Rowan entfachte einmal mehr ein Feuer, diesmal sogar, ohne besondere Schutzmaßnahmen zu ergreifen, denn die hohen Felswände boten genügend Schutz vor den Blicken neugieriger Beobachter.
    Da er eingesehen hatte, dass er nicht jede Nacht durchwachen konnte, hatten sie sich darauf geeinigt sich abzuwechseln. Allerdings bestand Rowan darauf, dass Cassandras Wachschicht erst begann, wenn der Morgen bereits graute. Dann gab er der Müdigkeit nach und gönnte sich etwas Schlaf, bis der neue Tag anbrach und sie ihre Suche fortsetzen konnten.
    Wie an jedem Abend wurde es rasch kälter. Dunst stieg vom Boden auf und legte sich grau und unheimlich über die in Dunkelheit versinkende Landschaft, und wie an jedem Abend suchten Rowan und Cassandra der Kälte und der Furcht zu entgehen, indem sie sich eng aneinanderdrängten. Das Lager teilten sie in diesen Tagen nur selten, meist waren sie zu erschöpft dazu. An diesem Abend jedoch hatte sie sich verlangend an ihn gedrängt, und Rowan hatte der Versuchung nachgegeben. Der Liebesakt war dennoch nur von kurzer Dauer gewesen; eng aneinandergeschmiegt, kauerten sie nun am Feuer, und Rowan streichelte ihre nackte Schulter. Schon zuvor war ihm aufgefallen, dass ihre sonst makellose Haut dort mehrere Narben aufwies, die offenbar von einer Verbrennung rührten, jedoch hatte er sie nie danach gefragt.
    An diesem Abend – er wusste selbst nicht warum, vermutlich nur, weil ihm das Schweigen unerträglich war – sprach er sie darauf an.
    »Woher hast du das?«, fragte er. Er hauchte einen Kuss auf die faltige Hautstelle und merkte, wie sie zusammenzuckte – ob seiner Frage oder der Liebkosung wegen, wusste er nicht zu sagen.
    »Ich weiß nicht«, erwiderte sie, und er schalt sich einen

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