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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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seinen gedrungenen Körper umhüllte, war er ein hoher Würdenträger. Seine bayda , sein Helm, war ringsum von Kettengeflecht umgeben, das nur zwei Sehschlitze frei ließ. Durch diese Öffnungen starrte ein dunkles Augenpaar den Gefangenen an.
    »Was für eine Ehre«, spottete dieser. »Darf ich noch erfahren, in wessen Gefangenschaft ich mich befinde, ehe ihr mich umbringt?«
    Der Vermummte blieb eine Antwort schuldig. Wortlos und mit vor der Brust verschränkten Armen baute er sich vor ihm auf.
    »Was denn? Willst du dich an meinem Elend weiden, verdammter Heide?« Das Auge des Ritters starrte den Anführer wütend an. »Dann sieh nur gut hin, denn ich werde weder um Gnade winseln noch werde ich im Angesicht des Todes Furcht oder Schwäche zeigen. Hast du verstanden?«
    Der Vermummte starrte weiter auf ihn herab. Ob er ihn verstanden hatte, war nicht zu erkennen. Auch nicht, ob die Worte in seinem von Kettengeflecht verhangenen Gesicht irgendeine Wirkung hinterließen. Er schüttelte nur langsam den Kopf.
    »Was?«, fragte der Ritter ungehalten.
    »Kaum zu glauben«, entgegnete der Vermummte in bestem Französisch – zur größten Verblüffung seines Gefangenen.
    »Du … du sprichst meine …?«
    »Wie du hören kannst«, bestätigte der andere. Durch das Kettenwerk hörte sich seine Stimme seltsam dumpf und metallisch an, dennoch hatte der Ritter das Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen. »Überrascht dich das?«
    »Ein wenig«, gab der Gefangene zu.
    »Dennoch kannst du kaum weniger überrascht sein als ich. Denn wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht gedacht, dich noch einmal wiederzusehen, Bruder Kathan .«
    Der Ritter erstarrte.
    Bruder Kathan.
    Wie ein Ruf aus ferner Vergangenheit drang der Name an sein Ohr, er hatte ihn lange nicht gehört.
    »Wo… woher kennst du diesen Namen?«
    Der Vermummte zögerte einen Moment. Dann griff er an seinen Helm und nahm ihn ab. Feste, entschlossene Gesichtszüge kamen darunter zum Vorschein, die dunkler und faltiger geworden waren, seit der Ritter sie zuletzt gesehen hatte, und der Vollbart, der einst das runde Kinn geziert hatte, war grau geworden und nach orientalischer Art spitz geschnitten. Dennoch hätte er das Gesicht unter Tausenden wiedererkannt. Er hatte sich geschworen, es nie zu vergessen.
    »Mercadier«, flüsterte er.
    Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt.

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2
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    »Abgründig ist das Herz über alles und heillos, wer kann es ergründen?«
    Jeremiah, 17,9
    Zagrosgebirge
Zur selben Zeit
    Seit Wochen durchstreiften sie das Bergland. Je höher hinauf sie gelangten, desto mehr verloren sich die ohnehin nur schwach markierten Pfade. Der Boden wurde karger, der Baumbewuchs spärlicher, sodass schließlich nur noch gedrungene Nadelhölzer und verdörrte Büsche blieben; der graue, von Regen und Wind verwitterte Fels ragte dafür immer höher und ehrfurchtgebietender auf. Und obwohl der Sommer inzwischen angebrochen war und die Zeit der Regenfälle zu Ende ging, war es vor allem in den Nächten noch empfindlich kalt, sodass Rowan hin und wieder doch ein Feuer entfachen musste.
    Er verwendete nur trockenes Holz dafür und pflegte Gruben auszuheben oder Einfassungen aus Steinen aufzuschichten, damit die Flammen nicht weithin zu sehen waren; denn die Gefahr der Entdeckung bestand nach wie vor. Auch wenn sich die Schattenkrieger nicht mehr gezeigt hatten: An jedem Abend, wenn die Sonne hinter den zerklüfteten Felsen verschwand, fragte sich Rowan, ob sie den Morgen erleben oder mit zerschnittenen Kehlen enden würden.
    Und die geheimnisvollen Krieger waren nicht seine einzige Sorge. Noch immer hatten Cassandra und er nicht die geringste Spur von Bruder Cuthbert gefunden, sodass auch er inzwischen zweifelte, ob sein Meister noch am Leben war; zudem gingen die Vorräte, die der schwarze Ritter ihnen überlassen hatte, langsam zur Neige, obwohl sie vom ersten Tag an streng rationiert und sie durch Beeren und andere Wildfrüchte ergänzt hatten.
    Nur einmal war es Rowan gelungen, einen Hasen zu fangen, und das mehr aus Zufall: Das Tier hatte sich in die Höhle verirrt, in der sie die Nacht verbrachten. Rowan hatte sich noch gefragt, weshalb das Tier keinen Fluchtversuch unternommen hatte, als er es in die Enge trieb und mit einem Stein erschlug. Das zähe, streng schmeckende Fleisch hatte die Antwort darauf gegeben. Das Tier war alt gewesen, ausgehungert und kraftlos, sodass es sich widerstandslos in sein Schicksal gefügt hatte – und zumindest ein Teil von

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