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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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offenbar langer Zeit ein Bild in den Fels des Berges geschlagen, ein Bild, das gut fünfzehn Fuß hoch war und deutlich erkennbar eine große Gestalt in prächtiger Kleidung zeigte, auf deren Haupt so etwas wie eine Krone ruhte: ein König, stattlich und ehrfurchtgebietend; den Fuß hatte er triumphierend auf einen Gegner gesetzt, der vor ihm am Boden lag und den er offenbar bezwungen hatte. Der Rest des Bildes war von Pflanzen verdeckt, doch die Seherin wusste, dass unterhalb des Königs noch weitere, sehr viel kleinere Figuren dargestellt waren, die nackt waren und offenbar die Untertanen des Königs darstellten – und sie wusste es deshalb, weil sie dieses Bild schon einmal gesehen hatte …
    »Der Priesterkönig«, sagte Rowan, auf die Figur deutend. »Bruder Cuthbert war also auf dem richtigen Weg!«
    »Das ist nicht gesagt«, wandte sie ein. »Das Bild scheint viele hundert Jahre alt zu sein, es könnte auch …«
    Rowan legte den Kopf schief und schaute sie prüfend an. »Ist das jenes Bild im Fels, das du in deinen Träumen gesehen hast, ja oder nein?«, verlangte er zu wissen.
    Sie biss sich auf die Lippen.
    Dann nickte sie zaghaft. Und widerwillig gestand sie sich ein, dass sich ein weiterer ihrer Träume bewahrheitet hatte.



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1
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    »Kraftlos bin ich und ganz zerschlagen,
ich schreie lauter, als der Löwe brüllt.«
    Psalm 38,9
    Unbekannter Ort
Ende Mai 1187
    Als der schwarze Ritter zu sich kam, wusste er nicht, wo er sich befand. Sein Schädel dröhnte, und er erinnerte sich, dass man ihn niedergeschlagen hatte.
    Zum ungezählten Mal.
    Tagsüber pflegten seine Häscher ihn gefesselt auf einen Gaul zu setzen, bei Einbruch der Dunkelheit zerrten sie ihn aus dem Sattel und banden ihn an einen Wurzelstock oder an einen in den Boden gerammten Pfahl. Und wann immer ihnen der Sinn danach stand, verprügelten sie ihn.
    Er verspürte keine Lust, sein Auge zu öffnen, da er doch nichts anderes sehen würde als Dunkelheit. Man hatte ihm einen Sack über den Kopf gestülpt, damit er nichts erkennen konnte. Er hatte es satt, stickige Luft zu atmen und ständig herumgestoßen zu werden, wollte endlich wissen, in wessen Gewalt er sich befand. Doch seine Häscher hatten nicht auf seine Fragen reagiert, sei es, weil sie ihn nicht verstanden oder nicht verstehen wollten.
    Lieber blickte er in sich selbst hinein, in die Vergangenheit, die ihm zumindest ein wenig Trost verhieß. Nicht, weil die Zeiten besser gewesen wären oder er weniger Schmerz zu ertragen hatte, sondern einfach deshalb, weil die Vergangenheit hinter ihm lag.
    Erst nachdem seine Lebensgeister wieder halbwegs zurückgekehrt waren, nahm der Ritter wahr, dass etwas anders war als sonst. Es war nicht nur sein eigener Schweiß, den er roch, er hatte plötzlich auch den Geruch von gebratenem Fleisch in der Nase; die Geräusche, die aus der Ferne an sein Ohr drangen, ein beständiges Klopfen und Schaben, begleitet von heiseren Stimmen, waren weniger gedämpft; und durch seine geschlossenen Lider glaubte er flackernden Feuerschein auszumachen.
    In einem spontanen Entschluss öffnete er das Auge, um verblüfft festzustellen, dass man ihm den Sack abgenommen hatte. Er saß in einem Zelt, wie Beduinen es benutzten, auf dem nackten Boden, einmal mehr an einen Pfahl gebunden. Auch seine Beine waren von den Knöcheln bis hinauf zu den Knien gefesselt, sodass er sich kaum rühren konnte. Draußen schien es Nacht zu sein, denn kein Licht drang durch die aus Ziegenhaar gewobenen Zeltbahnen; der flackernde Schein, den der Ritter wahrgenommen hatte, stammte von einer Öllampe.
    Der Eingang des Zeltes war verschlossen, zwei Posten standen davor, Orientalen, die Kettenhemden und rote Turbane trugen und ihn misstrauisch taxierten. Als sie sahen, dass er erwacht war, wechselten sie ein paar knappe Worte, worauf einer der beiden das Zelt verließ. Als er den Türvorhang beiseiteschlug, konnte der Ritter kurz sehen, dass seine Vermutung richtig gewesen war: Draußen herrschte dunkle Nacht, ein sternenübersäter Himmel spannte sich über die Steppe.
    »Werdet ihr mir nun endlich sagen, wo ich mich befinde und wessen Gefangener ich bin?«, wandte sich der Ritter an den verbliebenen Posten, der ihm jedoch einmal mehr nicht antwortete.
    Von draußen waren Schritte zu hören. Der andere Posten kehrte zurück, in seiner Begleitung befand sich ein weiterer Mann. Dem an einem gelben Bandelier befestigten Schwert und der Brigantine aus blaugrüner Seide nach zu urteilen, die

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