Das verschollene Reich
ob …
Er schüttelte den Kopf. So etwas war nicht möglich, oder?
Die Frage, auf die das Pendel die Antwort gab, wie lautete sie? Wie gebannt starrte Rowan auf das Pendel – und überwand sich, die Frage zu stellen, die ihm am meisten auf den Nägeln brannte: »Wo befindet sich das Reich des Priesterkönigs?«
Rowan vermochte nicht zu sagen, ob er es sich nur einbildete, aber das Pendel schien nach wie vor immer stärker in Richtung der Felswand auszuschlagen. War das die Antwort auf seine Frage? Musste er diese Wand überwinden?
In einem jähen Entschluss raffte er sich auf die Beine und hängte sich die Schnur wieder um den Hals. Und noch ehe er recht darüber nachdenken konnte, was er tat, legte er sein langes Obergewand ab und schickte sich an, die Felswand zu erklimmen. Ein letzter Versuch, der mehr der Verzweiflung als der Hoffnung geschuldet war.
Fast lotrecht ging es hinauf.
Das zerklüftete Gestein bot guten Halt, allerdings forderte die Erschöpfung der letzten Tage ihren Tribut. Auf den ersten drei Mannslängen kam Rowan noch rasch voran, dann ließ die Kraft in seinen Muskeln nach, und das Klettern wurde zur Pein. Sein Atem beschleunigte sich, Schweiß trat ihm auf die Stirn, aber er gab nicht auf. Mit zusammengebissenen Zähnen zwang er sich dazu, den Fuß auf den nächsten Vorsprung, in die nächste Spalte zu setzen und sich immer weiter hinaufzuarbeiten. Irgendwann blickte er nach unten – und war dankbar für den Nebel, der den Grund der Schlucht bedeckte und es weniger hoch aussehen ließ, als es war. Allerdings gab sich Rowan keinen falschen Hoffnungen hin. Wenn er den Halt verlor, dann war es um ihn geschehen. Selbst wenn er den Sturz überleben würde, in dieser Gegend würde selbst ein gebrochenes Bein den sicheren Tod bedeuten.
Dann verdichtete sich der Nebel und wurde so undurchdringlich, dass Rowan die Hand kaum noch vor Augen sehen konnte. Einen Weg zurück gab es nun nicht mehr. Panik wollte ihn überkommen, doch er kämpfte sie nieder, indem er an das Pendel und an Bruder Cuthbert dachte, und so kletterte er weiter.
Immer öfter musste er jetzt Pausen einlegen. Auf halbwegs sicherem Stand erlaubte er sich, jeweils einen Arm oder ein Bein auszuschütteln und so die Krämpfe zu vertreiben, die sich in seinen Muskeln einnisten wollten. Sein Atem ging heftig, sein Pulsschlag raste, die Tunika war schweißdurchtränkt. Dennoch arbeitete er sich Stück für Stück voran. Und endlich lichtete sich der Nebel, und das obere Ende der Felswand wurde sichtbar. Es war schnurgerade, als wäre der Berg mit einem Messer abgeschnitten worden.
Der Anblick gab Rowan neue Kraft. Schmerz pulsierte in seinen Muskeln, als wollten sie bersten, seine Kehle war ausgedörrt, sein Atem rasselte, doch er gab nicht auf. Wie in tiefer Trance suchte seine zitternde, zerschundene Hand nach immer neuem Halt, suchten die Füße mit dem vom rauen Fels zerschlissenen Schuhwerk nach einem sicheren Tritt. So ging es langsam nach oben, der Kante entgegen, die Rowan wie eine ferne Verheißung vorkam – bis er sie endlich zu fassen bekam.
Halb zog, halb schob er sich in einer letzten verzweifelten Anstrengung hinauf, wälzte sich stöhnend über die Kante und blieb auf kaltem Stein liegen, den weißgrauen Himmel über sich, an dem die Sonne nun zumindest als fahle Scheibe auszumachen war. Sein Körper zitterte vor Anstrengung, sein Herz raste. Keuchend rang er nach Atem, froh darüber, noch am Leben zu sein, und sich gleichzeitig für seine Unbedachtheit verwünschend.
Irgendwann – wie lange es dauerte, wusste Rowan später nicht mehr zu sagen – beruhigte sich sein Herzschlag. Seine Glieder schmerzten noch immer, und das würde wohl auch noch eine Weile so bleiben, aber sein Atem ging wieder ruhiger und gleichmäßiger, das Brennen in seiner Brust ließ nach. Und dann hörte er sie.
Stimmen!
Wie von einer Schlange gebissen, warf sich Rowan herum. Jetzt erst erkannte er, dass die abgeflachte Felsenkrone nur wenige Schritte breit war. Auf der anderen Seite fiel das Gestein erneut ab, jedoch offenbar weniger steil. Bäuchlings auf dem Boden liegend, kroch er zur Abbruchkante und spähte vorsichtig darüber hinweg.
Der Anblick war atemberaubend.
Rowan hatte das Gefühl, auf ein Meer zu blicken: ein Meer, das aus weißen Wolken bestand und aus dem hier und dort steile Klippen ragten. Jäh wurde ihm klar, dass das, was er für Nebel gehalten hatte, in Wirklichkeit Wolken gewesen waren, und dass er sich nun oberhalb
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