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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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liegen, brauchte Zeit, um zu begreifen, dass er noch am Leben war und alle Knochen heil geblieben waren. Schwerfällig wälzte er sich aus den Gesteinsbrocken, ächzend und hustend. Als sich der Staub der Gerölllawine legte, konnte er sehen, dass der Nebel hier unten weniger dicht war. Er konnte die Kamele erkennen, die am Hang zurückgeblieben waren und in stoischer Ruhe auf ihn warteten. Und er konnte die dunkle Felswand sehen, die nicht nur vor ihm, sondern auch zu beiden Seiten in nebelverhangene Höhen ragte, fast wie die Mauern einer gigantischen, von Zyklopen errichteten Burg.
    Die hässliche Erkenntnis, dass das Geröllfeld in einer Sackgasse endete, ging Rowan auf und ließ seinen Schädel dröhnen. Und zu seinen körperlichen Schmerzen, zu Erschöpfung, Furcht und Müdigkeit gesellte sich nun auch noch schiere verzweifelte Wut.
    Hatte er so viele Mühen auf sich genommen, so viele Rückschläge erduldet und Niederlagen überwunden, nur um jetzt hier vor dieser Felswand zu stehen? War das Gottes Plan? War das die Fürsorge des Allmächtigen, die er in ungezählten Psalmen beschworen und die ihn schließlich hierher geführt hatte? Rowans Enttäuschung entlud sich in einem heiseren, verzweifelten Schrei, der von den Felswänden widerhallte, ehe er unheimlich im Nebel verklang.
    Er fiel vornüber, schlug mit den Fäusten auf den steinigen Boden, bis sie bluteten, aber er scherte sich nicht darum. Die Verzweiflung war stärker als alles andere. Alle, alle hatten sie ihn verlassen. Zuerst Farid. Dann Bruder Cuthbert. Schließlich Cassandra. Und nun schien sich auch noch der Allmächtige selbst gegen ihn gewandt zu haben.
    Warum?
    Hieß es in den Psalmen nicht, dass es demjenigen, der den Herrn suchte, an nichts mangelte? Und sprach das erste Buch Samuel nicht davon, dass der Herr jedem seine Gerechtigkeit und Treue vergelte? War Rowan etwa nicht auf der gerechten Seite? Und hatte er den Herrn nicht aufrichtigen Herzens gesucht? Hatte er nicht nach besten Kräften versucht, sein altes Selbst hinter sich zu lassen?
    Doch, das hatte er.
    Aber war das genug?
    Woher die Einsicht rührte, vermochte Rowan selbst nicht zu sagen, aber sie war da, auch wenn sie ihm nicht gefiel.
    Was auch immer er in seinem Leben getan hatte, er hatte es niemals um des Allmächtigen willen getan. Jede Regel und jedes Gebot, sogar die heiligen Offizien waren ihm als Mittel der Unterdrückung erschienen, und er hatte mehr Zeit und Kraft dafür aufgewendet, sich ihnen zu entziehen, als sie zu erfüllen. Selbst als er nach Jerusalem gekommen war, an jenen Ort, an dem der Herr selbst gewirkt hatte, hatte er sich ihm verschlossen aus Furcht, sein ganzes bisheriges Leben könnte sich als das erweisen, was es war.
    Verschwendete Zeit.
    Eine Lüge, nicht besser als jene, die Cassandra ihm aufgetischt hatte. Ein schändlicher Verrat an allem, was seine Mutter ihn einst gelehrt hatte. Tränen hilfloser Trauer traten ihm in die Augen, und ein Gefühl der Reue erfüllte ihn, wie er es nie zuvor empfunden hatte. Wäre in diesem Moment ein Priester zur Hand gewesen, so hätte er ihn ohne Zögern gebeten, ihm die Beichte abzunehmen, allen Vorsätzen zum Trotz.
    Doch es war kein Priester da. Niemand, der ihn anhören würde, der ihm Absolution erteilte.
    In diesem Augenblick vernahm Rowan ein leises Klirren. Überrascht fuhr er in die Höhe, stellte fest, dass es das Pendel war, das ihm aus dem Halsausschnitt seiner Tunika gerutscht und zu Boden gefallen war.
    Cuthberts Pendel.
    Einem Impuls gehorchend, nahm Rowan es auf und betrachtete es, und unwillkürlich musste er an die Unterhaltung denken, die sein Meister und er geführt hatten.
    »Fortan wird es deine Aufgabe sein, die Frage zu suchen«, hatte Bruder Cuthbert gesagt.
    »Was für eine Frage?«, hatte Rowan wissen wollen.
    »Zu der Antwort, die dir das Pendel gibt. Wann immer du in Zukunft das Gefühl hast, unnütz warten zu müssen und Gottes Zeit zu verschwenden, befrage das Pendel – es wird dir helfen, die Geduld zu bewahren.«
    Rowan dachte nicht lange nach. Schon hielt er die Lederschnur zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ das Pendel frei daran hängen.
    Einen Augenblick lang schien es stillzustehen.
    Dann begann es, hin und her zu schwingen, ganz zaghaft zunächst, dann immer heftiger – genau in Richtung der steilen Felswand.
    Rowan runzelte die Stirn. Er nahm die zweite Hand zu Hilfe, um das Pendel so ruhig wie nur irgend möglich zu halten, dennoch schlug es immer höher aus, als

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