Das verschollene Reich
die Fesseln abzustreifen, mit denen man ihn an den Pfahl gebunden hatte; die ledernen Riemen hatten dadurch nur noch tiefer in seine Handgelenke geschnitten. Blut rann ihm zwischen die Finger, doch Kathan spürte den Schmerz nicht einmal.
Und dann war plötzlich sie in sein Leben getreten.
Als der Eingangsvorhang beiseitegeschlagen wurde, nahm er sie zunächst gar nicht wahr. Da war nur Mercadier, der wie bei seinem letzten Besuch die Rüstung des Feindes trug. Etwas jedoch hatte sich verändert: Die höhnische Überlegenheit, die sein einstiger Waffenbruder bisher an den Tag gelegt hatte, schien in blanken Zorn umgeschlagen zu sein.
»Los doch«, knurrte er, während er jemanden neben sich her schleifte, der den weiten Mantel eines Wüstenbewohners trug. Die schlanke Gestalt, die sich unter dem weiten Stoff abzeichnete, sowie das lange rote Haar straften diesen Eindruck jedoch Lügen. »Sieh her, wen ich hier habe!«
Er zerrte die junge Frau vollends ins Zelt und stieß sie so hart, dass sie unmittelbar vor Kathan niederfiel. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und von Schwellungen entstellt, die fraglos von Schlägen rührten, wodurch Kathan sie nicht auf den ersten Blick erkannte. Das filigran geschnittene Gesicht und die dunklen Augen kamen ihm jedoch sofort bekannt vor.
»Nun, Bruder?«, fragte Mercadier, der sich mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihm aufgebaut hatte. »Erkennst du sie wieder?«
Kathan nickte.
Er erkannte sie.
Es war die junge Frau, die er aus der Gewalt der Templer befreit hatte, zusammen mit dem jungen Zisterziensermönch.
»Erstaunlich, nicht wahr?«, fragte Mercadier mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Wer will da noch von Zufall sprechen? Es muss Bestimmung sein, die uns nach all der Zeit zusammenführt.«
Kathan schaute zuerst die junge Frau, dann seinen einstigen Waffenbruder fragend an. »Wovon sprichst du?«
»Wovon ich spreche?« Mercadier zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ist das einer von deinen seltsamen Scherzen? Wenn ich ehrlich sein soll, Bruder, habe ich deinen Sinn für Humor nie geteilt.«
»Du sollst mich nicht Bruder nennen.«
»Und du hör auf, ein Spiel zu spielen, das längst vorüber ist. Ich weiß, dass du ihretwegen hier bist. Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie du ihren Aufenthalt herausgefunden hast.«
»Wovon verdammt sprichst du?«, verlangte Kathan noch einmal zu wissen. »Ist das deine Art, mich zu verhöhnen?«
Mercadier blickte ihm direkt in die Augen. Was im Kopf des Verräters vor sich ging, war für Kathan unmöglich zu erkennen.
»Du weißt es tatsächlich nicht«, stellte sein Erzfeind schließlich fest. »Du erkennst sie nicht.«
»Wen, verdammt?«, knurrte Kathan.
»Muss ich dir das wirklich sagen? Muss ich dir den Grund dafür nennen, warum du all dies auf dich genommen hast? Warum du diesen ebenso törichten wie sinnlosen Krieg gegen den Orden begonnen hast? Warum du dich auf diese aussichtslose Suche begeben hast, die dich schließlich hierhergeführt hat?«
»Das Mädchen«, murmelte Kathan, als ihm klar wurde, worauf der andere hinauswollte. »Wo ist es? Ich will es sehen, und wenn es nur noch das eine Mal ist!«
»Rührend, wirklich. Du bist schon immer ein hoffnungsloser Träumer gewesen, Kathan, hoffnungslos und verblendet.« Mercadier nickte bekräftigend. Dabei blickte er demonstrativ auf die junge Frau, die zu seinen Füßen kauerte. Das rote Haar hing ihr wirr ins Gesicht, sodass davon kaum etwas zu sehen war. Sie starrte zu Boden und schluchzte leise – und dieses Schluchzen weckte in Kathan eine Erinnerung, die …
»Nein«, flüsterte er und schüttelte den Kopf. »Das Mädchen war noch jung, nur sieben oder acht Winter alt …«
»… und seither sind viele Winter vergangen«, stimmte Mercadier zu. »Vierzehn, um genau zu sein.«
»Du redest Unsinn.«
»Denk nach, Kathan! Wie viele Sommer sind verstrichen, seit du sie das letzte Mal gesehen hast? Wie oft wurde das Christfest gefeiert, wie oft die Auferstehung des Herrn?«
»Ich weiß es nicht«, gab Kathan tonlos zu, »denn ich habe seither keine Feste gefeiert. Aber ich weiß, dass diejenige, die ich suche, noch ein Kind ist und keine Frau. Deine Versuche, mich in die Irre zu führen, sind sinnlos.«
»Logisches Denken war nie deine Stärke«, konterte Mercadier. »Ob du es wahrhaben willst oder nicht, Bruder – dies ist das Mädchen, das wir einst in dem Dorf Forêt gefunden haben und das die Gabe besitzt, Dinge zu
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