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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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von ihnen befand. Er erinnerte sich, dass Cassandra von einer »Festung über den Wolken« gesprochen hatte, und eine seltsame Euphorie wollte sich seiner bemächtigen – als er die Straße sah.
    Sie verlief am Fuß des Abhangs und steckte halb in den Wolken, sodass er sie zunächst übersehen hatte. Aber das Gebilde war zweifellos von Menschen gemacht. Dafür sprachen nicht nur die beiden Rinnen, die sich im gestampften Boden abzeichneten und von Wagenrädern stammten; sondern auch die Pfähle, die entlang der Straße eingeschlagen waren und auf denen – ein Schauder durchlief Rowan – bleiche Schädel steckten!
    Unwillkürlich fühlte er sich an den Brief des Priesterkönigs erinnert, an die Menschenfresser und anderen grässlichen Gestalten, von denen darin die Rede war, doch es blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Erneut waren Stimmen zu hören, und durch die Wolkenschleier sah Rowan einen kleinen Zug von Wagen die Straße heraufkommen.
    Es waren zweirädrige Ochsenkarren, die mit Bündeln von Flechten und dürrem Holz beladen waren. Geführt wurden die Ochsen von fünf Männern, wie Rowan sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie waren von gedrungener Gestalt und trugen weite Röcke und fellbeschlagene Mützen. Am eigenartigsten jedoch waren ihre Gesichter, denn ihre Hautfarbe war ungewöhnlich blass und ihre Augen waren so schmal, dass Rowan zunächst glaubte, sie würden mit geschlossenen Lidern marschieren. Unbeirrt kamen sie die Straße herauf und scherten sich nicht um die grausigen Staffagen, die den Wegrand säumten, wahrscheinlich weil sie selbst es gewesen waren, die sie aufgestellt hatten.
    Ob sie Menschenfresser waren oder nicht, wusste Rowan nicht zu sagen. Aber ganz offenbar waren es Menschen wie diese gewesen, die Bruder Cuthbert entführt und getötet hatten, denn die Sprache, in der sie sich lauthals unterhielten, kam Rowan seltsam bekannt vor. Er hatte sie schon einmal gehört, in der Nacht des Überfalls! Trotz seiner Erschöpfung musste er alle Beherrschung aufwenden, um nicht aufzuspringen und den Hang hinabzustürmen, sich mit bloßen Händen auf sie zu stürzen. Viel klüger war es, ihnen zu folgen, um herauszufinden, wer genau sie waren und woher sie kamen. Doch wie konnte er das, ohne entdeckt zu werden und womöglich dasselbe traurige Ende zu erleiden wie Bruder Cuthbert?
    Der Zufall kam Rowan zu Hilfe. Just als der Zug der fünf Ochsenkarren die Stelle passierte, oberhalb deren er sich verbarg, brach bei einem der Räder die Nabe. Ein helles Bersten, als der hölzerne Splint brach, ein heiserer Schrei – und der Wagen kippte um und ergoss seinen Inhalt über die Straße.
    Die Karawane kam zum Stehen, und die Ochsentreiber versammelten sich um den umgestürzten Wagen und diskutierten lautstark miteinander. Rowans Entschluss stand fest. Er wollte diesen Kerlen unbemerkt folgen, sie wenn möglich für ihre Untaten zur Rechenschaft ziehen – und plötzlich wusste er, wie er es anstellen konnte.
    Alle fünf Treiber waren damit beschäftigt, den beschädigten Karren zu reparieren. Drei von ihnen wuchteten ihn hoch, während die beiden anderen das Rad wieder auf die Achse zu bringen versuchten.
    Die übrigen Fuhrwerke jedoch standen unbewacht …

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8
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    »Die Lippen der Weisen bewahren Erkenntnis, das Herz des Toren aber ist verkehrt.«
    Sprüche 15,7
    Sarazenisches Kriegslager
7. Juni 1187
    Kathan dröhnte der Schädel, und er hatte Mühe, mit all den Entwicklungen Schritt zu halten, die wie ein Ungewitter über ihn hereingebrochen waren.
    Mercadier war noch am Leben.
    Kathans Zorn und seine Frustration darüber, sich in der Gewalt des Mannes zu befinden, der ihn einst wie ein wildes Tier gejagt und ihn mit einem Pfeil im Kopf elend hatte zugrunde gehen lassen wollen, überwogen jede andere Empfindung. Sein ganzes Streben war darauf ausgerichtet, aus der Gefangenschaft zu entkommen – jedoch nicht, um zu fliehen und sein Leben zu retten, sondern einzig und allein, um sich Mercadier zu stellen und ihn für seine Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Dafür, dass er ihn zum Sterben zurückgelassen hatte und aus niederen Beweggründen zum Feind übergelaufen war, hätte der einstige Waffenbruder den Tod ohnehin verdient gehabt; ungleich schwerer jedoch wog in Kathans Auge noch der Verrat, den Mercadier verübt hatte. Der Verrat an jener unschuldigen, zerbrechlichen Kreatur, die mit dem Leben zu beschützen Kathan sich geschworen hatte.
    Vergeblich hatte er versucht,

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