Das verschollene Reich
verfolgt. Aber je mehr Zeit verstrich und je länger Rowan allein unterwegs war, desto besser gelang es ihm, diese Furcht in den Hintergrund zu drängen – meist, indem er leise murmelnd Psalmen rezitierte. Sie zu erlernen war ihm eine Mühsal gewesen, eine in seinen Augen überflüssige Schikane, die man ihm im Kloster auferlegt hatte. Nun jedoch, da er allein war und auf sich gestellt, fand er Trost in den jahrtausendealten Worten, die schon so viele vor ihm gesprochen hatten, und trug sie vor sich her wie ein Ritter seinen Schild.
»Wer unter dem Schirm des Höchsten wohnet, wer da ruhet im Schatten des Allmächtigen«, zitierte er den einundneunzigsten Psalm, »der darf sprechen zum Herrn: ›Meine Zuflucht, meine Feste, mein Gott, auf den ich vertraue … meine Zuflucht, meine Feste … mein Gott, auf den ich vertraue … mein Gott, auf den ich vertraue … vertraue …«
An diesem Morgen war es nicht wirklich hell geworden. Zwar waren die Schatten der Nacht verblasst, jedoch schien es, als wäre die Sonne nicht aufgegangen; dichter Nebel lag über dem Gebirge und sorgte dafür, dass man keine fünfzehn Schritte weit sehen konnte. Felsen und gedrungene Bäume tauchten wie stumme, unheimliche Wächter aus dem milchigen Grau auf, und mehr als einmal zuckte Rowan zusammen, weil er glaubte, eine Gestalt zu erkennen, einen Gegner, einen Feind.
Im Nebel war es noch schwerer, sich zu orientieren. Dumpf und unheimlich klangen seine Schritte und die der Tiere auf dem Geröll, kalter Wind strich mit leisem Heulen über die Hänge.
Gegen Mittag beschloss Rowan, dass es keinen Sinn mehr hatte weiterzugehen. Er wollte sich einen Unterschlupf suchen und abwarten, bis sich der Nebel lichtete. Auf dem von Moosen und einzelnen Bäumen bewachsenen Hang schien es weit und breit keine geschützte Stelle zu geben, also stieg er notgedrungen noch weiter hinauf. Den schneebedeckten Gipfeln musste er inzwischen näher sein als je zuvor, aber er wusste nicht mehr, in welcher Richtung sie sich befanden – geschweige denn, wo das sagenumwobene Reich des Priesterkönigs zu suchen war.
Befand er sich längst auf dessen Territorium? Oder war doch alles nur ein Hirngespinst? Umgeben vom dichten Nebel, der kalt und klamm unter seine Kleider kroch und ihm seine Einsamkeit nur noch deutlicher zu Bewusstsein brachte, schien alles möglich, den Zeichen zum Trotz, die er erhalten hatte. Vielleicht, dachte Rowan bitter, war ja auch er der Versuchung erlegen, sein eigenes Wünschen und Sehnen zur Fügung zu erheben.
Irgendwann endete der Anstieg vor einem Felsenturm, der sich schemenhaft im Nebel abzeichnete. Das Gelände war zu abschüssig für einen Lagerplatz, also wandte Rowan sich nach rechts. Die Kamele am Zügel führend, folgte er dem Verlauf der Felswand. Dabei lief er mehrmals Gefahr, auf losem Geröll auszugleiten und abzustürzen.
Unvermittelt fiel das Gelände wieder ab, zunächst nur ein wenig, dann immer steiler. Gestein löste sich unter Rowans Sohlen und rieselte in Tiefen, die sich jenseits des dichten Nebels nur erahnen ließen. Rowan stieß eine leise Verwünschung aus. Zurück konnte er nicht, aber weiterzugehen bedeutete ebenfalls Gefahr – was, wenn der Hang vor ihm plötzlich senkrecht abfiel?
Vorsichtig, Schritt für Schritt, tastete er sich voran. Die Kamele schienen seine Unruhe zu spüren, denn sie folgten ihm weniger bereitwillig als zuvor. Unablässig rieselte das Geröll, das aus flachen, spitzkantigen Steinen bestand, unter den Füßen und Hufen. Und dann geschah es …
Als das Packtier plötzlich schnaubte, wandte sich Rowan um, um das Tier zu beruhigen. Im selben Augenblick begann der Boden unter seinen Füßen zu rutschen. Einen Moment lang konnte er sich noch aufrecht halten, dann verlor er das Gleichgewicht.
Um die Tiere nicht mitzureißen, ließ er die Zügel los, und mit den Füßen voran rutschte er rücklings den Hang hinab, weiter und weiter, inmitten einer Lawine von Gesteinsbrocken, an deren scharfen Kanten er sich Arme und Beine blutig schnitt. Verzweifelt versuchte er, sich irgendwo festzuhalten, griff jedoch nichts als loses Gestein. Ein entsetzter Schrei entfuhr seiner Kehle, und er rechnete damit, dass der Hang jeden Augenblick enden und er in einen bodenlosen Abgrund stürzen würde – aber das war nicht der Fall.
Schon kurz darauf endete die rasante Schlitterpartie vor einer steil aufragenden Felswand, an deren Fuß sich das Geröll sammelte. Halb verschüttet unter Steinen blieb Rowan
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