Das verschollene Reich
ihnen Griechisch verstehen, dessen sie sich in der Liturgie bedienen, geradeso wie wir uns des Lateinischen.«
»In der Liturgie?«
»Gewiss.« Cuthbert machte eine Handbewegung, die nicht nur die Kapelle, sondern die ganze Festung einzuschließen schien. »Wir sind hier unter Christenmenschen, mein Sohn.«
»Also doch …« Rowan schürzte die Lippen.
»Ganz recht, mein Junge«, bestätigte der alte Mönch, wobei erneut ein schalkhaftes Lächeln um seine milden Züge spielte. »Sei herzlich willkommen im Reich des Priesterkönigs Johannes.«
Rowan schaute sich um, und all seine Vermutungen wurden zur Gewissheit. Mit einem Mal sah er die Kapelle, die Soldaten und die ganze Festung mit anderen Augen. »Dann ist es also wahr?«
»Wenn man so will – ja.«
»Aber das … das ist ja wunderbar! Das bedeutet, dass unsere Opfer nicht vergeblich gewesen sind! Wir haben unsere Mission erfüllt und können mit guten Nachrichten nach Jerusalem zurückkehren! Das Königreich ist gerettet!«
»Nun«, entgegnete Cuthbert leise und mit einem seltsamen Unterton, »das wohl nicht.«
»Nein?« Rowan legte den Kopf schief und schaute seinen Meister forschend an. Einige Augenblicke lang war er so begeistert gewesen, dass er erst jetzt bemerkte, dass der alte Cuthbert seine Euphorie nicht teilte. Etwas stimmte nicht, das wurde ihm jäh klar. »Warum nicht? Seid Ihr dem König begegnet? Habt Ihr den Priesterkönig schon gesehen? Habt Ihr mit ihm gesprochen?«
»In gewisser Weise«, erwiderte Cuthbert ausweichend, »und du wirst ihn ebenfalls kennenlernen, denn die Wachen haben den Auftrag, dich zu ihm zu bringen. Aber sei unbesorgt, ich werde dich begleiten.«
Rowan wusste nicht, was er erwidern sollte. Die Freude, die er eben noch empfunden hatte, schwand wie Morgendunst im Licht des Tages. Es war offensichtlich, dass die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten. Doch was war der Grund dafür? Wieso war Bruder Cuthbert plötzlich so zurückhaltend?
»Komm«, forderte er Rowan auf, und sie gingen hinaus, wo die Wachen sie in ihre Mitte nahmen. Das Holzbündel, das Rowan achtlos zurückgelassen hatte, lag noch auf dem Boden. Vermutlich war es der Grund dafür, dass man auf ihn aufmerksam geworden war.
In bewaffneter Begleitung ging es weiter hinauf, durch Höhlen und Gänge, die von schräg einfallenden Lichtschäften beleuchtet wurden.
»Ich kann mir denken, dass du viele Fragen hast«, sagte Bruder Cuthbert, als könnte er Rowans Gedanken erraten – zumindest diese Eigenschaft schien er nicht verloren zu haben.
»Allerdings, Meister.«
»Nur zu, frage. Du sollst alles erfahren.«
»Wie seid Ihr hierhergekommen?«
»Durch Zufall – oder auch durch Fügung. Als ich in jener Nacht Wache hielt, sah ich das Unheil nicht kommen. Es näherte sich so lautlos, dass ich keine Chance hatte, mich dagegen zu wehren oder auch nur Alarm zu schlagen. Etwas traf mich am Kopf, und ich verlor das Bewusstsein. Als ich zu mir kam, befand ich mich in der Gewalt dieser Menschen, die für unser Auge so ungewöhnlich aussehen.«
»Wer sind sie?«, wollte Rowan wissen.
»Keraiten«, antwortete Bruder Cuthbert nur.
»Was bedeutet das?«
»Ein Volk aus dem Osten«, antwortete sein Meister bereitwillig. »Die Legende berichtet, dass sich vor langer Zeit ein König der Keraiten in den Weiten dieses Gebirges verirrte. Als er schon alle Hoffnung fahren ließ, jemals wieder herauszufinden, erschien ihm der Herr in einer Vision und sagte ihm, dass er ihn nicht zugrunde gehen lassen wolle, wenn er fürderhin an ihn glaubte. Der König stimmte zu, und tatsächlich fand er kurz darauf einen Pfad, der ihn auf sicherem Weg aus der Wildnis führte.«
»Und was geschah dann?«
»Kurz darauf traf er auf eine Karawane aus dem Westen. Er fragte die Kaufleute nach ihrer Religion, und sie antworteten ihm, dass sie an Jesum Christum glaubten. Daraufhin bekehrte er sich. Er ließ sich und sein ganzes Volk taufen und begründete ein Reich, das sich nach allen Himmelsrichtungen bis an die Grenzen dieses Gebirges ausdehnte und das in Frieden und Wohlstand erblühte. So blieb es eine lange Zeit, bis der König starb und die Macht auf seine Söhne überging. Diese jedoch waren untereinander uneins und zerfressen von Neid. Das Reich zerfiel, während im Morgenland ein neuer Glaube entstand. Die Anhänger Mohammeds, in religiösem Eifer entbrannt, brachen wie ein Sturm über die Stämme der Keraiten herein, die jeder für sich zu schwach waren, um sich zu
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