Das verschollene Reich
behaupten, und hinweggefegt wurden. Nur hier, in diesem Gebirge, in dem ihr König einst zum Glauben gefunden hatte, konnten sie überleben, in verstreuten Dörfern und Burgen wie dieser, bis zum heutigen Tag, von ihren Feinden und der Zeit vergessen.«
Rowan nickte. »Ich verstehe, Meister. Aber was hat all das mit dem Priesterkönig zu tun?«
Cuthbert schickte ihm einen Seitenblick. »Du sollst alles erfahren. Gedulde dich nur noch einen Augenblick.«
Sie hatten das Ende des Stollens erreicht, wo sich erneut eine in den Stein gehauene Treppe durch den Fels wand. Wie viele Höhlen und Stollen sie durchquerten, wusste Rowan anschließend nicht mehr zu sagen, aber die Gänge, deren Wände häufig mit Tierdarstellungen bemalt waren, wurden belebter, je weiter sie nach oben kamen.
Schließlich fiel Tageslicht in den Stollen und kündigte an, dass sie das Gipfelplateau erreicht hatten. Über eine schmale Treppe stiegen sie hinauf, und Rowan musste die Augen gegen das helle Licht schirmen, das ihnen entgegenströmte. Blinzelnd schaute er sich um, sah die Umgrenzungsmauer und die Türme, die ihm schon von unten aufgefallen waren, nun aus der Nähe. Anders als der untere Hof schien dieser den Soldaten vorbehalten zu sein. Wohin Rowan auch blickte, sah er gedrungene Männer in Plattenpanzern und mit Mützen aus Fell. Einige übten den Kampf mit Klinge und Schild, andere den Umgang mit Pfeil und Bogen, indem sie auf hölzerne Pfähle schossen, die man in einiger Entfernung in den Fels gesteckt hatte. Die Treffsicherheit, die sie dabei an den Tag legten, war erstaunlich, zumal in Anbetracht ihrer kurzen Bogen.
Unter den Kriegern war ein Mann, der Rowan sofort auffiel. Zwar hatte er dieselbe gedrungene Postur wie alle anderen, jedoch war sein Gewand aufwendiger gearbeitet. Ziegenfell bedeckte die Schultern, ein Kettenharnisch spannte sich über der breiten Brust, der fellgesäumte Helm wurde von Federn gekrönt. Die Züge des Mannes wirkten angespannt, während er den anderen bei ihren Übungen zusah. Ruhelosigkeit lag in seinen schmalen Augen. Der schwarze Bart, der Oberlippe und Kinn bedeckte, unterstrich noch sein fremdländisches Aussehen.
In Begleitung der Wachen trat Bruder Cuthbert zu ihm und sprach einige Worte auf Griechisch. Da Rowan seinen Namen heraushörte, nahm er an, dass er vorgestellt wurde. »Rowan«, sagte Cuthbert anschließend auf Gaelisch, »dies ist Fürst Ungh-Khan, der Herrscher der Keraiten.«
Rowan verbeugte sich höflich, hatte jedoch nicht das Gefühl, vor den kritischen Augen des Burgherrn Gnade zu finden. Ungh-Khan stellte Cuthbert mehrere Fragen, die dieser bereitwillig beantwortete.
»Was sagt er?«, fragte Rowan.
»Ich habe ihm erklärt, dass du mein Diener bist und dass du ihm und seinem Volk freundlich gesinnt bist.«
»Schön«, raunte Rowan zurück. »Ich habe nur leider das Gefühl, dass er mir nicht sehr wohlgesinnt ist.«
»Sei unbesorgt. Die Keraiten mögen uns mit Misstrauen und Argwohn begegnen, aber sie werden uns kein Leid zufügen.«
»Warum?«
»Weil, mein Junge, sie auf uns gewartet haben.«
»Auf uns gewartet?« Rowan sah seinen Meister fragend an. »Was bedeutet das nun wieder?«
»Es bedeutet, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Legende des Priesterkönigs Johannes und Fürst Ungh-Khan. Gewissermaßen ist er sein leiblicher Sohn.«
»Sein Sohn?« Rowan machte große Augen.
»Auch für mich war es verwirrend, all diese Dinge zu erfahren«, versicherte Bruder Cuthbert. »Als Fürst Ungh-Khan mir jedoch von der Geschichte seines Stammes berichtete, wurde mir alles klar. Um sein Volk vor dem sich ausbreitenden Islam zu schützen, hat Korh-Khan, der damalige Herrscher der Keraiten und Vater ihres jetzigen Anführers, einen Hilferuf verfasst und ihn an die christlichen Herrscher jenseits der zwei Ströme und der großen Wüste geschickt. Nur einer davon hat seinen Bestimmungsort jemals erreicht, auf Umwegen und erst viele Jahre später – nämlich jenes Schreibens, das wir als epistula presbyteri ioannis kennen – den Brief des Priesterkönigs Johannes.«
Erneut pendelten Rowans Blicke zwischen den beiden Männern hin und her. »Aber … wo sind die Paläste, von denen im Brief die Rede ist?«, schnappte er. »Wo die Fürsten, die dem Priesterkönig dienen? Die sagenhaften Reichtümer? All die wundertätigen Orte?«
»Das habe ich Fürst Ungh-Khan auch gefragt«, räumte Cuthbert ein, »aber er weiß nichts von diesen Dingen.«
»Dann hat sein Vater
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