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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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gelogen?«
    »Vielleicht. Möglicherweise gibt es aber noch eine andere Erklärung. Das Griechisch, das die byzantinischen Missionare einst zu den Keraiten brachten, lebt seit Jahrhunderten unter ihnen fort und hat sich in dieser Zeit gewandelt. Vielleicht war man in Byzanz nicht in der Lage, den Brief in seinem ganzen Wortlaut zu verstehen, und hat ihm deshalb Dinge hinzugefügt.«
    »Hinzugefügt?«
    »Nach allem, was wir wissen, hat das Schreiben den kaiserlichen Hof erst nach einigen Jahren erreicht. Niemand vermag zu sagen, durch wie viele Hände es in dieser Zeit gegangen ist, wie viele Augen es gelesen und wie viele Zungen seinem Inhalt etwas hinzugefügt haben. Aus dem Hilferuf eines bedrängten Herrschers ist somit ein Hohelied auf dessen Reich und Herrschaft geworden, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass wir aufgrund dieses Schreibens ausgesandt wurden, um unsererseits um Hilfe zu ersuchen.«
    Rowan hatte das Gefühl, als hätte sich unter seinen Füßen eine Falltür geöffnet und als würde er in einen bodenlosen Abgrund stürzen. Eben noch hatte er geglaubt, am Ziel der Suche angelangt zu sein, dass sich alle Mühen doch noch bezahlt machen und es ihnen vergönnt sein würde, ihre Mission zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Nun musste er erkennen, dass er wiederum einer Täuschung erlegen war.
    Natürlich regte sich Trotz, gab es einen Teil in ihm, der sich weigerte, all dies zu glauben. Doch es war nicht irgendjemand, der diese ungeheuerlichen Dinge behauptete, sondern Bruder Cuthbert; und es war die logische Antwort auf viele Fragen.
    »Sei nicht enttäuscht, Junge«, sagte der alte Mönch. »All dies belegt nur, was wir von Beginn an wussten: nämlich dass sich die Menschen ihre eigenen Zeichen zu geben pflegen und dass sie stets das glauben, was sie glauben wollen. Nur ein Rätsel bleibt bestehen.«
    »Nämlich?« Rowan schaute zaghaft auf.
    »Die goldene Feder. Fürst Ungh-Khan bestreitet, sie geschickt zu haben, und ich kann mir nicht denken, wie …«
    »Cassandra«, sagte Rowan nur. Es verschaffte ihm einen gewissen Trost, ein einziges Mal mehr zu wissen als sein Meister. In aller Kürze berichtete er, was sich nach Cuthberts Verschwinden zugetragen hatte – vom Überfall der Templer und dem Auftauchen des geheimnisvollen schwarzen Ritters bis hin zu Cassandras überraschendem Geständnis und ihrer nächtlichen Flucht.
    »Sie beschwor mich umzukehren«, schloss Rowan seinen Bericht, »aber sie warnte mich, nach Jerusalem zurückzukehren, das dem Untergang geweiht sei. Dann verschwand sie. Dennoch waren es ihre Visionen, die mich hierher geführt haben.« Cuthbert nickte nachdenklich, wirkte jedoch längst nicht so überrascht, wie Rowan angenommen hatte.
    »Also doch«, sagte der alte Benediktiner nur.
    »Was meint Ihr?«
    »Ich hatte den Verdacht, dass sie ihre eigenen Pläne verfolgt.«
    »Seit wann?«, fragte Rowan. »Schon die ganze Zeit über?«
    »Nein.« Cuthbert schüttelte das Haupt. »Erst von dem Tag an, da sie Französisch gesprochen hat.«
    »Ihr … wusstet es?«
    Der alte Mönch lächelte. »Ich hätte dir wohl sagen sollen, dass nicht nur meine Augen, sondern auch mein Gehör mir noch zuverlässige Dienste leistet.«
    Für Rowan fühlte es sich an, als würde ihm das Herz aus der Brust gerissen. Reue befiel ihn, die so übermächtig war, dass er nicht anders konnte, als sich vor seinem Meister zu Boden zu werfen. »Verzeiht, Meister. Bitte verzeiht! Es tut mir leid, dass ich Euch getäuscht habe.«
    »Du hast mich nicht getäuscht, Junge«, versicherte Cuthbert, während er sich bückte, ihn an den Armen fasste und wieder auf die Beine zog. »Nur dich selbst hast du betrogen.«
    »Aber warum habt Ihr nichts gesagt?«
    »Ich habe versucht, dich zu warnen, wie du dich vielleicht erinnern wirst. Mehr stand nicht in meiner Macht. Ich habe auf den Allmächtigen vertraut und darauf, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht kommt – und das hat sie offenbar getan.«
    »Nicht ganz.« Rowan schürzte die Lippen. »Wir kennen noch nicht den Grund für Cassandras seltsames Verhalten.«
    »Die Zeit wird es lehren.« Cuthberts Lächeln war voller Zuversicht.
    »Warum seid Ihr nicht zurückgekehrt, Meister?«, fragte Rowan leise. »Ihr habt mir gefehlt.«
    »Weil Fürst Ungh-Khan es mir nicht gestattet hat«, entgegnete der alte Mönch und machte eine Handbewegung in Richtung des Herrn der Festung, der sich wieder seinen Soldaten zugewandt hatte und die Schießübungen

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