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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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Jerusalem nichts wert wäre, wenn es in seinem Rücken noch eine weitere Bastion der Christen gäbe. Doch wenn er nun zurückkehren müsste, ohne einen Erfolg vorweisen zu können, würden seine Feinde ihn vernichten. Also hatte er seine Unterführer zu sich gerufen und sein Heer in Marsch gesetzt. Zurückgeblieben waren nur zwei Zelte, von denen eines verwundete und erkrankte Soldaten beherbergte, das andere die beiden Gefangenen.
    Gefangene!
    Das Wort schmerzte ebenso wie die Riemen, mit denen man die junge Frau angebunden hatte. Unmittelbar neben dem Pfahl, an den Kathan gefesselt war, hatte man einen weiteren in den Boden gerammt und sie so daran festgebunden, dass sie Rücken an Rücken saßen, unfähig, einander zu sehen. Sprechen konnten sie ebenfalls nicht, da man ihnen Knebel in den Mund gestopft hatte.
    Nach Reden war ihr ohnehin nicht zumute. So vieles gab es, über das sie nachdenken und worüber sie sich klar werden musste, Wissen, das an ihr nagte, nachdem es über so viele Jahre verschüttet gewesen war, bedeckt von Grauen, Ekel und Scham. Nun, da sie wusste, was damals geschehen war, war ihr auch der Schmerz wieder gegenwärtig, und sie wunderte sich nicht darüber, dass sie alles verdrängt hatte. Gleichzeitig bedauerte sie es jedoch, denn nur so war es möglich geworden, dass sich Mercadier ihr Vertrauen erschleichen, dass er sich als ihr Gönner hatte ausgeben können, während er in Wahrheit stets nur seinen eigenen Vorteil im Sinn gehabt hatte.
    Widerspruchslos war sie ihm gefolgt, hatte sich seinen Anweisungen gefügt und seine Launen ertragen, weil sie das Gefühl gehabt hatte, es ihm schuldig zu sein. Nun erst wurde ihr klar, wie töricht sie gewesen war. Und sosehr sie sich danach gesehnt hatte, ihre Herkunft zu erfahren, sosehr schämte sie sich für das, was ihr falscher Ziehvater aus ihr gemacht hatte.
    Ein Werkzeug des Feindes hat Kathan mich genannt.
    Und er hat recht.
    Die Luft im Zelt war schwül und stickig. Der Sommer hatte begonnen, und wenn die dichten Wolken über dem Gebirge aufrissen, schickte die Sonne sengende Strahlen vom Himmel. Der kühle Wind, der von den Schneehängen herabblies, war zwar noch immer da, jedoch drang er ebenso wenig durch die dicht gewebten Zeltbahnen wie das Tageslicht, sodass schummriges Halbdunkel herrschte.
    Wie lange sie hier verbleiben würden, auf dem Boden kauernd, Rücken an Rücken an den Pfahl gefesselt, konnte die junge Frau, die die Sarazenen As-Sifâra nannten, nur vermuten, jedoch gab sie sich keinen falschen Hoffnungen hin. Wenn Mercadier von seinem Feldzug zurückkehrte, würde er sie töten, und die Reise, die vor vierzehn Jahren in dem kleinen Dorf Forêt in Frankreich ihren Anfang genommen hatte, würde ebenso grausam und brutal enden, wie sie begonnen hatte. Sie hatte den Untergang vorausgesehen, in zahllosen Bildern und Träumen, doch sie hatte nicht geglaubt, dass es auch ihr eigener Untergang sein würde.
    Vielleicht, sagte sie sich traurig, war es sogar besser so. Bei allem, was sie getan hatte, hatte sie weder Gnade noch Vergebung verdient. Sie musste an Rowan denken, hoffte, dass er ihren Ratschlag befolgt und sich auf den Heimweg gemacht hatte, wo er hoffentlich in Sicherheit war und nicht fürchten musste, in einen Hinterhalt zu geraten.
    Sie verzog das Gesicht, als heftiger Schmerz ihr Handgelenk durchzuckte. Unablässig hatte sie an den ledernen Riemen gezerrt, bis diese ihr nun so tief ins Fleisch schnitten, dass es blutete. Warm und feucht rann es an ihren Händen herab, und erschrocken wollte sie aufhören, als sie bemerkte, dass das Blut ihre Hände glitschig und das Leder weicher machte.
    Mit zusammengebissenen Zähnen setzte sie ihre Bemühungen fort, ignorierte den Schmerz, machte immer weiter – und hatte plötzlich eine Hand frei. Mit heftig pochendem Herzen befreite sie auch die andere, nahm sich selbst den Knebel ab und ging daran, ihre zusammengebundenen Beine loszubinden. Dann erhob sie sich lautlos und schlich zu Kathan, befreite ihn ebenfalls von Fesseln und Knebel. Wenn sie jedoch geglaubt hatte, in den verhärmten Zügen des Ritters so etwas wie Dankbarkeit zu finden, hatte sie sich geirrt. Der Blick des eisblauen Auges traf sie wie ein Pfeil, und kaum hatte sie ihm den letzten Riemen abgenommen, sprang Kathan in die Höhe. Und noch ehe seine Befreierin recht begriff, was geschah, schossen die Hände des Ritters wie zwei Schlangen an ihren Hals und drückten unbarmherzig zu.
    Sollte ich jemals diese Fesseln

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