Das verschollene Reich
erzählt hatte? Oder war Bouvais der Name der letzten traurigen Ansammlung von Hütten gewesen, der sie im Zuge ihres Auftrags einen Besuch abgestattet hatten? Kathan hatte keine Ahnung, und es lohnte auch nicht, darüber nachzudenken. Solange seine Gefährten und er nicht gefunden hatten, wonach sie suchten, spielten Namen keine Rolle.
Ebenso wie Orte.
Oder Zeit.
Im Frühjahr hatten sie mit ihrer Suche begonnen. Damals waren sie noch guter Dinge gewesen, den Unwillen ihres Ordensmeisters durch einen raschen Erfolg besänftigen und wieder ins Heilige Land zurückkehren zu können. Doch die Suche zog sich hin, und inzwischen gab es keinen Zweifel mehr, dass sie den Winter in Frankreich würden verbringen müssen, der alten Heimat, die ihnen seltsam fremd geworden war.
Kathan sehnte sich nach der Sonne des Südens, nach dem warmen Licht des Orients, nach dem heißen Wind, der aus der Wüste wehte. Dort war seine Heimat – hier hingegen nichts als Fremde.
»Bitte, Ihr hohen Herren. Trinkt und esst. Ihr müsst erschöpft sein von Eurer langen Reise.«
Sie saßen im Haus des Dorfältesten, an einem schmalen Tisch, der aus dem Stamm einer Eiche gezimmert war. Die Mahlzeit, die man ihnen vorgesetzt hatte, war karg und bestand aus Getreidebrei und Rüben. Wer dem grauhäutigen Mann, der dem Dorf vorstand, allerdings in die ausgemergelten Züge blickte, der wusste, dass das mehr war, als die Dorfbewohner gewöhnlich zu essen bekamen.
»Ist das alles, was Ihr aufzubieten habt?«, fragte Mercadier dennoch. »Ist das Eure Auffassung von Gastfreundschaft?«
»Mehr haben wir nicht«, versicherte der Mann, der nicht älter sein mochte als die drei Templer, jedoch schwach und gebrechlich wirkte. »Fast unsere gesamte Ernte wurde vernichtet, als Soldaten unsere Tiere töteten und die Scheune niederbrannten. Und es verspricht ein harter Winter zu werden.«
Mercadier ließ ein unwilliges Knurren vernehmen und begann zu essen. In rascher Folge schob er sich den hölzernen Löffel mit der zähen Masse in den Mund und schluckte ohne zu kauen. Gaumardas tat es ihm gleich, lediglich Kathan konnte sich nicht überwinden zu essen. Sein Blick fiel auf die vier Kinder, die in einer Ecke des Raumes kauerten, schmutzig und zerlumpt. Alle sahen dem Dorfvorsteher ähnlich, mit dem Unterschied, dass die Kinder noch bleicher und zerbrechlicher wirkten als ihr Vater. Aus dunklen, tief liegenden Augen schauten sie die drei Ritter an, als wären sie keine Wesen aus Fleisch und Blut, sondern leibhaftige Erscheinungen.
Kathan konnte sehen, dass sich eines der Kinder, ein Junge von vielleicht zehn Jahren, ganz besonders für das Schwert interessierte, das an Kathans Seite hing. Er nickte dem Jungen aufmunternd zu, worauf dieser nur zusammenzuckte und sich eingeschüchtert in den hintersten Winkel zurückzog. Kathan wandte sich wieder seinem Getreidebrei zu und aß widerwillig ein paar Löffel – genug, um die Gastfreundschaft des Dorfes nicht zu beleidigen, aber nur so viel, dass für den Jungen und seine Geschwister noch genug übrig blieb.
»Ihr kriegt wohl nicht viel Besuch, was?«, schmatzte Gaumardas.
»Nein, Herr«, entgegnete der Bauer beflissen.
»Du weißt, wer wir sind?«, fragte Mercadier, auf das Kreuz auf seiner Brust deutend.
Der Dorfvorsteher nickte, und Kathan glaubte, nackte Furcht in seinen Augen zu erkennen. Offenbar hatte er mit der armen Ritterschaft Christi keine guten Erfahrungen gemacht.
»Willst du auch wissen, was uns in diese gottverlassene Gegend geführt hat?«, bohrte Mercadier weiter, der wie meist die Befragung führte, während Kathan beharrlich schwieg und Gaumardas ungehemmt weiter schmatzte.
»Nein, Herr.« Der Bauer starrte vor sich auf den Boden. »Das heißt, nur wenn es Euch beliebt, es mir zu verraten.«
Mercadier lachte auf. »Für einen Bauern weißt du mit Worten wohl umzugehen.«
Kathan kannte dieses Lachen zur Genüge. Mercadier ließ es immer dann vernehmen, wenn er sein Opfer umkreiste, lauernd wie ein Aasfresser.
»Du solltest dein Talent nutzen, um uns zu verraten, was wir wissen wollen«, fuhr Mercadier fort.«Wir sind auf der Suche nach jemandem. Nach einer Frau.«
»Ei-einer Frau?« Unwillkürlich spähte der Bauer in Richtung seines eigenen Weibes, eines bleichen, krummbeinigen Wesens, das an der Feuerstelle stand und den Brei zubereitet hatte.
»Einer Seherin«, erklärte Mercadier. »Einer Frau, die über die Gabe des zweiten Gesichts verfügt.«
»Des zweiten Gesichts«,
Weitere Kostenlose Bücher