Das verschollene Reich
wiederholte der Bauer und glotzte die Besucher verständnislos an.
Unterdessen hatte sich der Junge wieder ein Stück aus seinem Versteck gewagt. Neugierig spähte er zu Kathan herüber, der ihm ermunternd zunickte. Daraufhin löste sich der Knabe aus der Ecke und kam auf zitternden Beinen näher. In seiner Faust hielt er eine hölzerne Figur, ein kleines Pferd, das er an sich presste, als wollte er sich selbst damit Mut machen. Es war unübersehbar, dass sich der Junge vor den Besuchern fürchtete.Kathans Schwert jedoch schien eine seltsame Faszination auf ihn auszuüben, die Neugier darauf größer zu sein als alle Angst.
»Ganz recht, mein Freund«, stimmte Mercadier zu. »Wie es heißt, hat dieses Weib in der Vergangenheit wiederholt Dinge vorausgesehen. So soll sie unter anderem das große Erdbeben von Syrien geweissagt haben. Und ebenso soll sie gewusst haben, dass das Ansinnen Amalrics, des großen Königs von Jerusalem, die Lande der Ägypter anzugreifen und im Zeichen des Kreuzes zu erobern, scheitern würde.«
Das Gesicht des Bauern wurde noch verständnisloser. Hilflos blickte er zu seiner Frau, die ebenfalls keinen Rat zu wissen schien. Es war den beiden anzusehen, dass sie all diese Namen nie zuvor in ihrem Leben gehört hatten. Kathan sah es damit als erwiesen an, dass sie einmal mehr unverrichteter Dinge würden weiterziehen müssen.
»Ich bedaure, Ihr Herren«, sagte der Dorfvorsteher prompt, »ich weiß nichts von diesen Dingen.«
»Du – weißt nichts davon?« Gaumardas ließ den Löffel in seine Schüssel fallen und spuckte das, was er im Mund hatte, gleich hinterher. »Willst du Hundsfott von einem stinkenden Bauern behaupten, du hättest noch nie von Jerusalem gehört? Von der Hohen Stadt, die wir den Heiden abgetrotzt, von den Blutopfern, die wir gebracht haben?«
»Nun, doch, ich …« Die Blicke des Mannes irrten ziellos umher, schienen Vergebung zu suchen, dabei wusste er noch nicht einmal, wovon der Templer mit der Narbe unter dem Mund eigentlich sprach. »Vor zwei Jahren war ein Prediger hier, der von den Geschehnissen im Heiligen Land berichtete …«
»Ein Prediger«, schnappte Gaumardas. »Was weiß ein Prediger von diesen Dingen? Was von der schmachvollen Niederlage in Ägypten? Was von den Entbehrungen der Gefangenschaft? Was von den Folterkerkern der Heiden? Was von der Dunkelheit, die dort herrscht?«
»Gaumardas«, sagte Kathan leise. Inzwischen war der Junge fast heran, wie gebannt auf den Griff des Schwertes starrend, in dessen Knauf das Templerkreuz eingraviert war.
»Was denn?«, zischte Gaumardas feindselig und fuhr zu ihm herum. Seine blutunterlaufenen Augen funkelten. »Erträgst du die Erinnerung nicht, Bruder Kathan?«
»Darum geht es nicht. Wir sind nicht hier, um uns zu erinnern, sondern um diese Frau zu finden.«
»Ganz recht«, pflichtete Mercadier bei. Er stand auf und beugte sich so weit über den Tisch, dass sein Gesicht das des Bauern fast berührte. »Und deshalb, mein erbärmlich stinkender Freund, solltest du uns nun alles verraten, was du darüber weißt.«
»A-aber ich weiß nichts«, versicherte der Bauer noch einmal. Auch seine Frau blickte inzwischen ängstlich drein, ebenso wie die Kinder. Nur der Junge, der jetzt bei Kathan stand und das Schwert des Tempelritters betrachtete, schien nicht mitzubekommen, was vor sich ging. Vermutlich, so dachte Kathan, spukten in seinem Kopf Träume von Dingen herum, die für ihn unerreichbar waren, von glorreichen Taten, siegreichen Kämpfen und fernen Ländern …
Seine Gedanken rissen ab, als Gaumardas plötzlich aufsprang und den Jungen packte, und schneller als Kathan, der Vater des Knaben oder irgendjemand sonst reagieren konnte, lag der Dolch des Templers bereits an der Kehle des Jungen.
Der Dorfvorsteher sprang auf. »Nein!«, rief er entsetzt. »Bitte, Herr, tut meinem Jungen nichts zuleide!«
»Keine Sorge«, zischte Gaumardas mit breitem Grinsen. »Ich möchte nur sichergehen, dass du uns die Wahrheit sagst, Bauer.«
»Gaumardas«, mahnte Kathan.
»Was willst du, Bruder? Ich habe es satt, mein Haupt auf Steine zu betten, zu frieren wie ein Hund und den Dreck zu fressen, den uns dieses Bauernpack vorsetzt. Ich will Antworten, jetzt gleich!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, packte er den Jungen noch fester, dem daraufhin ein Wimmern entfuhr. Mit vor Schreck geweiteten Augen blickte er zu seiner Mutter, die ihm zu Hilfe kommen wollte, doch ein warnender Blick von Mercadier hielt sie
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