Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
Augenblick, da Rowan über die Schwelle trat, hatte er das Gefühl, als würde sich das von Weihrauchduft erfüllte und von Kerzenschein beleuchtete Halbdunkel, das im Inneren der Kirche herrschte, wie eine Kapuze über ihn stülpen. Ob es an der Bedeutung lag, den dieser Ort für die Christenheit besaß, an der andächtigen Stille oder an der Heiligkeit, die von diesem Boden ausging – Rowan wurde von Gefühlen überwältigt, die er seit undenklich langer Zeit nicht verspürt hatte.
    Trauer.
    Schmerz.
    Reue.
    Sie überkamen ihn mit derartiger Wucht, dass Rowan den Eindruck hatte, darunter verschüttet zu werden. Tränen schossen ihm in die Augen, und endlich gab er dem Drang nach. Er fuhr herum, stieß einige Pilger grob zur Seite und stürzte durch das offene Portal nach draußen, eilte zu einer steinernen Bank auf dem Vorplatz, die wie durch ein Wunder unbesetzt war, und ließ sich darauf nieder. Einen Augenblick glaubte er, unter dem Ansturm der Gefühle vergehen zu müssen, doch dann spürte er die wärmenden Strahlen der Morgensonne auf seiner Haut, die ihm Trost und Hoffnung spendeten. Rowan atmete tief ein und aus, und tatsächlich gelang es ihm, die Flut seiner Empfindungen einzudämmen und wieder zurückzudrängen, zurück in den Abgrund, aus dem sie gekommen waren. Energisch wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, doch es dauerte noch eine Weile, bis sie versiegten und sein hämmernder Herzschlag wieder zur Ruhe kam. Wie lange er so saß, wusste er später nicht mehr zu sagen. Irgendwann fiel ein Schatten auf ihn, und er schaute auf.
    Cuthbert.
    »Alles in Ordnung, Junge?«, erkundigte sich der alte Mönch.
    »Natürlich«, versicherte Rowan und wischte sich noch einmal über die Augen. »Tut, was Ihr tun müsst.«
    »Was meinst du?«
    »Ihr müsst mich bestrafen.«
    »Wofür?«
    Rowan zuckte mit den Schultern. Im Grunde war es ihm gleichgültig, aber ihm war klar, dass dieses Gespräch nicht enden würde, ehe er nicht sein Gewissen erforscht und Antwort gegeben hatte. »Für mein ungehöriges Verhalten«, erwiderte er deshalb. »Dafür, dass ich mich unerlaubt von Euch entfernt und andere Pilger gestört habe.«
    »Hast du das?« Die kleinen Augen des Mönchs verengten sich, während er prüfend auf Rowan herabblickte. »Ich hatte eher den Eindruck, dass du das Haus des Herrn nicht zu betreten wagtest. Dass du dich nicht für würdig erachtet hast, dich der heiligen Stätte zu nähern – und das, scheint mir, ist Strafe genug.«
    Verblüfft schaute Rowan auf, war sich nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »W-wie meint Ihr das?«, stammelte er.
    »Mein Junge«, entgegnete Cuthbert, »ich habe andere als dich an diesem Ort zusammenbrechen sehen, überwältigt von Reue. Es gibt keinen Grund, sich dessen zu schämen. Oder seiner Tränen – schon viel eher sollte derjenige sein Gewissen erforschen, der in der Gegenwart des Heiligen Grabes nichts dergleichen verspürt. Ich glaube nicht, dass ich dich dafür bestrafen sollte – aber du dich auch nicht.«
    »Was … was wollt Ihr damit nun wieder sagen?« Rowan legte verwundert den Kopf schief.
    »Damit will ich sagen, dass ich mich um dich sorge«, erwiderte der alte Benediktiner, über dessen faltige und dennoch jugendliche Züge sich tatsächlich ein bekümmerter Ausdruck gelegt hatte. »Ich glaube, dass du großen Schmerz mit dir herumträgst.«
    »Was Ihr nicht sagt«, ächzte Rowan. Er kam sich ertappt und durchschaut vor, und das ärgerte ihn. »Und Ihr wollt mir diesen Schmerz nehmen, indem Ihr mir die Beichte abnehmt, richtig?«
    »Das kann ich nicht, mein Sohn«, wehrte Cuthbert ab, »denn ich habe keine Ordination empfangen. Weder kann ich dir die Beichte abnehmen noch dich von deinen Sünden lossprechen.«
    »Das ist gut«, knurrte Rowan, »denn ich beichte nicht.«
    »Aber ich kann versuchen, dir ein Freund zu sein«, fuhr der alte Mönch unbeirrt fort. »Ich weiß nicht, was dir widerfahren ist, Junge, aber ich nehme an, du hast guten Grund, so abweisend zu sein. Eines jedoch weiß ich gewiss: dass es sinnlos ist, sich selbst etwas vorzumachen – oder dem Allmächtigen dort oben«, fügte er mit einem bedeutsamen Blick zum strahlenden Morgenhimmel hinzu.

----
4
----

    »Loskaufen kann sich keiner, niemand Gott das Lösegeld für sich bezahlen. Zu hoch ist der Kaufpreis für ihr Leben.«
    Psalm 48, 8 – 9
    Nordfrankreich
November 1173
    Kathan wusste nicht, wo sie sich befanden.
    War dies das Dorf Bouvais, von dem Mercadier ihnen

Weitere Kostenlose Bücher